De Grundlagen der Sozaldoktrn der Russsch-Orthodoxen Krche
17.08.2000 · Deutsch, Архив 2000
August 13-16, 2000, Moskau
Die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche
Russian version | English version
Das vorliegende, vom Heiligen Bischöflichen Synod der Russisch-Orthodoxen Kirche verabschiedete Dokument legt die Grundlagen ihrer Lehre zu Fragen des Verhältnisses von Staat und Kirche sowie zu einer Anzahl bedeutsamer gegenwärtiger Probleme der Gesellschaft dar. Ebenso gibt es die offizielle Position des Moskauer Patriarchats hinsichtlich der Beziehungen zu Staat und säkularer Gesellschaft wieder. Darüber hinaus stellt es Richtlinien auf, die im betreffenden Bereich dem Episkopat, der Geistlichkeit sowie den Laien Orientierung bieten.
Der Charakter dieses Dokuments entspricht den Notwendigkeiten, wie sie die Vollkommenheit der Russisch-Orthodoxen Kirche im Laufe eines langen historischen Zeitraums auf dem kanonischen Territorium des Moskauer Patriarchats sowie über dessen Grenzen hinaus erfahren hat. Vor diesem Hintergrund besteht sein Hauptgegenstand zum einen in den fundamentalen theologischen sowie kirchlich-sozialen Fragen, zum anderen in denjenigen Aspekten des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, die für die gesamte kirchliche Vollkommenheit am Ende des 20. Jahrhunderts wie auch in nächster Zukunft gleichermaßen aktuell sind.
I. Theologische Grundpositionen
I.1. Die Kirche ist die Gemeinschaft der an Christus Glaubenden, in die einzutreten jeder von Ihm Selbst aufgerufen ist. In ihr soll „alles Himmlische und Irdische» in Christus vereinigt werden, weil Er „als Haupt alles überragt, über die Kirche gesetzt (ist). Sie ist sein Leib und wird von ihm erfüllt, der das All ganz und gar beherrscht» (Eph 1.22-23). In der Kirche erfolgt die Vergöttlichung der Schöpfung durch das Wirken des Heiligen Geistes, in ihr wird der ursprüngliche Ratschluß Gottes über die Welt und den Menschen verwirklicht.
Die Kirche ist das Ergebnis der Erlösungstat des Sohnes, der vom Vater gesandt wurde, und des heiligenden Wirkens des Heiligen Geistes, der am Großen Pfingst-tag herabstieg. Dem hl. Irenaeus von Lyon nach führt Christus die Menschheit an, Er wurde Oberhaupt des erneuerten menschlichen Geschlechts — Seines Körpers -, in welchem sich die Vereinigung mit dem Ursprung des Heiligen Geistes vollzieht. Die Kirche ist die Einheit der „neuen Menschheit in Christus», „die Vollkommenheit der Göttlichen Gnade, die in der Vielzahl der vernünftigen, der Gnade untergebenen Geschöpfe lebt» (A.S. Chomjakov). „Männer, Frauen, Kinder, die in Hinsicht auf Rasse, Volk, Sprache, Lebensführung, Arbeit, Wissenschaft, Titel, Reichtum (…) tief gespalten sind — sie alle werden durch die Kirche in dem Geist wiedererschaffen (…) Alle erhalten von ihr die gleiche, der Zerstörung unzugängliche Natur, eine Natur, die durch die zahlreichen und tiefgreifenden Unterschiede unter den Menschen unberührt bleibt (…) In ihr ist keiner von dem Gemeinsamen getrennt, gleichsam als gingen alle durch die einfache und unteilbare Kraft des Glaubens ineinander auf» (hl. Maxim der Bekenner).
I.2. Die Kirche ist ein gottmenschlicher Organismus. Als Leib Christi vereinigt sie in sich zwei Naturen — die göttliche und die menschliche — mit den ihnen eigenen Handlungsweisen und Willen. Die Kirche ist mit der Welt kraft ihrer menschlichen, kreatürlichen Natur verbunden. Sie tritt jedoch nicht als ausschließlich irdischer Organismus, sondern in ihrer ganzen sakramentalen Fülle in Austausch mit ihr. Namentlich die gottmenschliche Natur der Kirche ermöglicht die gnadenreiche Umwandlung und Reinigung der Welt, die sich in der Geschichte in schöpferischem Zusammenwirken, in der „Synergie» von Gliedern und Haupt des Leibes der Kirche vollziehen.
Die Kirche ist nicht von dieser Welt, wie auch ihr Herr, Jesus Christus, nicht von dieser Welt ist. Aber Er kam in diese Welt, Sich gleichsam zu deren Bedingungen „erniedrigend», — in eine Welt, die zu erlösen und wiederzuerrichten Ihm oblag. Die Kirche muß sich einem Prozeß der historischen Kenosis unterziehen, indem sie ihre Sühnemission erfüllt. Ihr Ziel ist nicht nur das Heil der Menschen in dieser Welt, sondern zugleich das Heil und die Wiedererrichtung der Welt selbst. Die Kirche ist berufen, in der Welt nach dem Vorbild Christi zu wirken, von Ihm und Seinem Reich Zeugnis abzulegen. Die Mitglieder der Kirche sind berufen, der Mission Christi, Seines Dienstes an der Welt, teilhaftig zu werden, der für die Kirche einzig als gemeinschaftlicher Dienst erfolgen kann, „damit die Welt glaubt» (Joh 17.21). Die Kirche ist zum Dienst an der Erlösung der Welt berufen, denn auch der Menschensohn Selbst „ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele» (Mk 10.45).
Der Erlöser sagt über Sich: „Ich bin aber unter euch wie der, der bedient» (Lk 22.27). Der Dienst im Namen der Erlösung der Welt und des Menschen darf keinen Einschränkungen durch nationale oder religiöse Vorbehalte unterliegen, wie der Herr Selbst in dem Gleichnis über den barmherzigen Samariter ausdrücklich sagt. Mehr noch, die Mitglieder der Kirche begegnen Christus, Der alle Sünden und Leiden der Welt auf sich lud, wenn sie sich des Hungrigen, Obdachlosen, Kranken und Gefangenen annehmen. Die Hilfe für einen Leidenden ist im wahrsten Sinn des Wortes Hilfe für Christus Selbst, und mit der Erfüllung dieses Gebots ist das ewige Schicksal jedes Menschen verbunden (Mt 25.31-46). Christus fordert Seine Jünger auf, die Welt nicht zu verachten, sondern „das Salz der Erde» und „das Licht der Welt» zu sein.
Als Leib des Gottmenschen Christus ist die Kirche gottmenschlich. Aber während Christus ein vollkommener Gottmensch ist, so ist hingegen die Kirche noch nicht die vollkommene Gottmenschheit, kämpft sie doch auf Erden gegen die Sünde, und die ihr eigene menschliche Natur, wiewohl innerlich mit der Gottheit verbunden, ist sie weit davon entfernt, in allem Sein Ebenbild und Seine Entsprechung zu sein.
Das Leben in der Kirche, zu dem jeder Mensch gerufen ist, bedeutet den unablässigen Dienst an Gott und den Menschen. Zu diesem Dienst ist das ganze Volk Gottes gerufen. Die Glieder des Leibes Christi erfüllen durch den gemeinsamen Dienst auch ihre je eigenen Funktionen. Jedem wird eine besondere Gabe für den Dienst an allen verliehen. „Dient einander als gute Verwaltung der vielfältigen Gnade Gottes, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat» (1 Petr 4.10). „Dem einen wird vom Geist die Gabe geschenkt, Weisheit mitzuteilen, dem anderen durch den gleichen Geist die Gabe, Erkenntnis zu vermitteln, dem dritten im gleichen Geist Glaubenskraft, einem anderen — immer in dem einen Geist — die Gabe, Krankheiten zu heilen, einem anderen Wunderkräfte, einem anderen prophetisches Reden, einem anderen die Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden, wieder einem anderen verschiedene Arten von Zungenrede, einem anderen schließlich die Gabe, sie zu deuten. Das alles bewirkt ein und derselbe Geist; einem jeden teilt er seine besondere Gabe zu, wie er will» (1 Kor 12.8-11). Die Gaben des vielfältigen Segens Gottes werden jedem einzelnen beschieden, jedoch für den gemeinsamen Dienst am Volk Gottes (einschließlich des Dienstes an der Welt). Und das ist der gemeinsame Dienst der Kirche, der auf der Grundlage nicht von einer, sondern von verschiedenen Gaben geleistet wird. Der Verschiedenheit der Gaben liegt auch die Verschiedenheit der Dienste zugrunde, „es gibt verschiedene Dienste, aber nur den einen Herrn. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott: Er bewirkt alles in allen» (1 Kor 12.5-6).
Die Kirche fordert ihre treuen Kinder auch zur Beteiligung am öffentlichen Leben auf, zu einer Beteiligung, die auf den Prinzipien der christlichen Moral beruhen soll: Im priesterlichen Gebet bat der Herr Jesus den Himmlischen Vater für Seine Nachfolger: „Ich bitte nicht, daß du sie aus der Welt nimmst, sondern daß du sie vor dem Bösen bewahrst (…). Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt» (Joh 17.15,18). Eine manichäische Verabscheuung des Lebens der uns umgebenden Welt ist unstatthaft. Die Teilnahme des Christen am Leben der Welt soll vom Verständnis getragen sein, daß die Welt, die Gesellschaft und der Staat Gegenstände der Göttlichen Liebe sind, da sie für die Umwandlung und Reinigung nach den Grundsätzen der gottgebotenen Liebe bestimmt sind. Der Christ soll die Welt und die Gesellschaft im Lichte deren letztendlicher Bestimmung sehen, im Lichte des eschatologischen Heils im Reich Gottes. Die verschiedenen Gaben in der Kirche wirken sich auf spezifische Weise auf die Bereiche ihres gesellschaftlichen Dienstes aus. Der unteilbare kirchliche Organismus nimmt am Leben der ihn umgebenden Welt in seiner ganzer Fülle teil, wenn auch Geistlichkeit, Mönchtum und Laienschaft auf verschiedene Art und in verschiedenem Grad diese Teilnahme verwirklichen können.
I.4. Die Kirche erfüllt den Heilsauftrag am menschlichen Geschlecht nicht nur durch unmittelbare Predigt, sondern auch durch gute Werke, die die Verbesserung des spirituell-moralischen sowie materiellen Zustands der Welt zum Ziel haben. Mit Blick darauf tritt sie in Beziehung zum Staat, auch wenn er keinen christlichen Charakter trägt, sowie zu verschiedenen gesellschaftlichen Vereinigungen undeinzelnen Menschen, selbst wenn sie sich mit dem christlichen Glauben nicht identifizieren. Ohne ihren Auftrag, alle zur Orthodoxie zu bekehren, zur Bedingung für eine Zusammenarbeit zu erheben, vertraut die Kirche darauf, daß gemeinsames Wohltun ihre Mitarbeiter und die Menschen um sie herum zur Erkenntnis der Wahrheit führt, ihnen hilft, die Treue zu den gottgegebenen sittlichen Normen zu bewahren oder wiederherzustellen, ihnen den Weg zu Frieden. Eintracht und Glückseligkeit eröffnet — allesamt Voraussetzungen für die Kirche, auf daß sie ihren Heilsauftrag auf bestmögliche Weise erfüllen kann.
II. Kirche und Nation
II.1. Das alttestamentliche israelitische Volk war der Inbegriff des Volkes Gottes, der neutestamentlichen Kirche Christi. Der Sühnetod Christi des Heilands legte den Anfang des Daseins der Kirche als der neuen Menschheit, der geistigen Nachkommenschaft des Erzvaters Abraham. Durch Sein Blut erlöste Christus uns „Menschen für Gott (…), aus allen Stämmen und Sprachen, aus allen Nationen und Völkern» (Offb 5.9). Ihrem Wesen nach ist die Kirche von universalem und folglich übernationalem Charakter. In der Kirche „gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen» (Rom 10.12). So wie Gott nicht nur der Gott der Juden ist, sondern auch derer, die aus heidnischen Völkern stammen (Rom 3.29), so teilt auch die Kirche die Menschen weder nach nationalem noch nach Klassenprinzip ein, in ihr „gibt es nicht mehr Griechen oder Juden, Beschnittene oder Unbeschnittene, Fremde, Skythen, Sklaven oder Freie, sondern Christus ist alles und in allem» (Kol 3.11).
Die gegenwärtige Welt verwendet den Begriff „Nation» in zweifachem Sinn -als ethnische Gemeinschaft sowie als die Gesamtheit der Bürger eines bestimmten Staates. Die Beziehungen zwischen Kirche und Nation sollen im Kontext der ersten wie auch der zweiten Bedeutung dieses Wortes betrachtet werden.
Im Alten Testament werden für den Begriff „Volk» die Wörter ‘am oder goy verwendet. In der hebräischen Bibel haben beide Begriffe eine ganz konkrete Bedeutung erhalten: der erste bezeichnete das israelitische, gotterwählte Volk, der zweite bedeutete in Plural (goyim) heidnische Völker. In der griechischen Bibel (Septuaginta) wurde der erste Begriff mit den Wörtern laos (Volk) oder demos (Volk als politisches Gebilde), der zweite mit dem Wort ethnos (Nation, Plural ethne, d.h. „Heiden») wiedergegeben. Die Gegenüberstellung von gotterwähltem israelitischem Volk und sonstigen, fremden Völkern ist ein durchgehendes Motiv in allen Büchern des Alten Testaments, das in der ein oder anderen Weise für die Geschichte Israels von Bedeutung ist. Die Auserwähltheit des israelitischen Volkes beruhte nicht auf dessen etwa zahlenmäßiger oder sonstiger Überlegenheit über die anderen Völker, sondern darauf, daß Gott Selbst es auserwählte und liebte (Dtn 7.6-8). Der Begriff des auserwählten Volkes im Alten Testament war ein religiöser Begriff. Das für die Söhne Israels charakteristische Gefühl der nationalen Einheit wurzelte im Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zu Gott durch den Bund, den der Herr mit ihren Vätern geschlossen hatte. Das israelitische Volk wurde zum Volk Gottes, dessen Berufung es war, den Glauben an den einen wahrhaftigen Gott zu wahren und von diesem Glauben im Angesicht anderer Völker Zeugnis abzulegen, damit der Welt der Erlöser aller Menschen erscheine, der Gottmensch Jesus Christus.
Die Einheit des Volkes Gottes wurde außer durch die Zugehörigkeit aller seiner Mitglieder zur gleichen Religion auch durch die Stammes- und Sprachgemeinschaft sowie die Verwurzelung auf einem bestimmten Gebiet, dem Vaterland, gesichert.
Die Stammesgemeinschaft der Israeliten hatte ihre Wurzel in der Abstammung vom Erzvater Abraham. „Wir haben ja Abraham zum Vater» (Mt 3.9; Lk 3.8), sagten die alten Juden, womit sie ihre Zugehörigkeit zur Nachkommenschaft dessen hervorhoben, dem Gott beschieden hatte, „Stammvater einer Menge von Völkern» (Gen 17.5) zu werden. Große Bedeutung wurde der Erhaltung der Reinheit des Blutes beigemessen: Ehen mit Fremdstämmigen wurden nicht gebilligt, da bei solchen Ehen der „heilige Same» mit „den Völkern des Landes» vermischt werde (Esra 9.2).
Dem israelitischen Volk wurde von Gott das Gelobte Land zu seinem Unterhalt gegeben. Als es aus Ägypten auszog, ging dieses Volk nach Kanaan, das Land seiner Vorfahren, und eroberte es auf göttliches Geheiß. Von jener Zeit an war das Kanaaner Land israelitisch, und dessen Hauptstadt, Jerusalem, wurde zum wichtigsten geistig-spirituellen und politischen Zentrum des gotterwählten Volkes. Das israelitische Volk sprach in einer Sprache, die nicht nur Alltags-, sondern auch Gebetssprache war. Mehr noch, das Althebräische war die Sprache der Offenbarung, da in ihr Gott Selbst zum israelitischen Volk sprach. In der Zeit vor der Ankunft Christi, als die Bewohner von Judäa aramäisch sprachen und das Griechische den Rang einer Amtssprache hatte, galt hebräisch weiterhin als heilige Sprache, in welcher der Gottesdienst im Tempel abgehalten wurde.
Ihrem Wesen nach universal, ist die Kirche zugleich ein einheitlicher Organismus und Körper (1 Kor 12.12). Sie ist die Gemeinschaft der Kinder Gottes, „ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde (…). Einst wart ihr nicht sein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk» (1 Petr 2.9-10). Die Einheit dieses neuen Volkes gründete nicht in der nationalen, kulturellen oder sprachlichen Gemeinschaft, vielmehr im Glauben an Christus und die Taufe. Das neue Volk Gottes hat „hier keine Stadt, die bestehenbleibt, sondern (es sucht) die künftige» (Hebr 13.14). Die geistige Heimat aller Christen ist nicht das irdische, sondern das „himmlische» Jerusalem (Gal 4.26). Das Evangelium Christi wird nicht in der heiligen Sprache verkündigt, verständlich nur einem Volk, sondern in allen Sprachen (Apg 2.3-11). Das Evangelium wird nicht einem einzigen auserwählten Volk verkündet, auf daß es den wahren Glauben bewahre, sondern allen, „damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr1 — zur Ehre Gottes, des Vaters» (Phil 2.10-11).
II.2. Der universale Charakter der Kirche bedeutet allerdings nicht, daß die Christen kein Recht auf nationale Eigenart und nationale Selbstverwirklichung hätten. Im Gegenteil, die Kirche verbindet in sich das universale mit dem nationalen Prinzip. Die Orthodoxe Kirche besteht somit in ihrer Eigenschaft als universale Kirche aus einer Anzahl Autokephaler Landeskirchen. Auch in dem Bewußtsein, Bürger des himmlischen Vaterlandes zu sein, dürfen die orthodoxen Christen ihre irdische Heimat nicht vergessen. Der Göttliche Gründer der Kirche, der Herr Jesus Christus Selbst, hatte kein irdisches Obdach (Mt 8.20) und wies stets darauf hin, daß die Lehre, die Er brachte, keinen lokalen oder nationalen Charakter trug: „(…) die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet» (Joh 4.21). Dennoch identifizierte Er Sich mit dem Volk, zu welchem Er aufgrund Seiner menschlichen Geburt gehörte. Im Gespräch mit der Samariterin hob Er Seine Zugehörigkeit zur jüdischen Nation hervor. „Ihr betet an, was ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden» (Joh 4.22). Jesus war ein loyaler Untertan des Römischen Reichs und entrichtete Steuern an den Kaiser (Mt 22.16-21). In seinen Briefen, in denen er den übernationalen Charakter der Kirche Christi lehrte, ließ der Apostel Paulus nicht unerwähnt, daß er der Geburt nach „ein Hebräer von Hebräern» (Phil 3.5), der Bürgerschaft nach ein Römer war (Apg 22.25-29).
Die kulturellen Unterschiede der einzelnen Völker finden im liturgischen und weiteren kirchlichen Wirken wie auch in den Besonderheiten der christlichen Lebensführung ihren Niederschlag. All dies erschafft die nationale christliche Kultur.
Unter den Heiligen, die von der Orthodoxen Kirche verehrt werden, erwarben sich viele Ruhm aufgrund der Liebe und Ergebenheit zu ihrem irdischen Vaterland. Die russischen hagiographischen Quellen preisen den hl. Rechtgläubigen Fürsten Michail Tverskoj, der „seine Seele für sein Vaterland hingab», indem sie seine Heldentat mit der des Großmärtyrers Dimitrij von Thessaloniki vergleichen, „des seligen Heimatliebenden, der über seine Heimatstadt sprach: Herr, wenn du die ganze Stadt vernichtest, sterbe ich mit ihr, wenn du sie aber errettest, so bin auch ich gerettet». Zu allen Zeiten rief die Kirche ihre Kinder dazu auf, ihr irdisches Vaterland zu lieben und das Opfer des Lebens zu seiner Verteidigung nicht zu fürchten, wenn ihm Gefahr drohte.
Die Russische Kirche hat in zahlreichen Fällen dem Volk für die Teilnahme an einem Befreiungskrieg den Segen erteilt. So segnete 1380 der Gerechte Sergij, Abt und Wundertäter von Radonez, das russische Heer unter der Führung des hl. Rechtgläubigen Fürsten Dimitrij Donskij für den Kampf gegen die tatarischmongolischen Invasoren. 1612 erteilte der hl. Hierarch Germogen, Patriarch von Moskau und ganz Rußland, der Landwehr gegen die polnischen Eindringlinge den Segen. Im Jahre 1813, im Zuge der Abwehr gegen die französischen Eroberer, sprach der hl. Hierarch Filaret von Moskau zu seiner Gemeinde: „Fürchtest du den Tod zu Ehren des Glaubens und für die Freiheit des Vaterlandes, wirst du als Verbrecher oder Sklave sterben, stirbst du für Glaube und Vaterland, empfängst du Leben und Kranz im Himmel.»
Der hl. Gerechte Johann von Kronstadt schrieb folgendes über die Liebe zum irdischen Vaterland: „Liebe dein irdisches Vaterland (…); es hat dich erzogen, ausgezeichnet, geehrt, mit allem ausgestattet. Liebe aber noch mehr dein himmlisches Vaterland (…); dieses Vaterland ist unvergleichlich wertvoller als das erste, weil es heilig, gerecht und unverderblich ist. In dieses Vaterland bist du durch das unschätzbare Blut des Gottessohns aufgenommen worden. Um aber Mitglied dieses Vaterlands zu sein, achte und liebe (seine) Gesetze, wie du auch verpflichtet bist, die Gesetze des irdischen Vaterlands zu achten und sie achtest.»
II.3. Der christliche Patriotismus bezieht sich in gleicher Weise auf die Nation als ethnische Gemeinschaft als auf die Gemeinschaft der Staatsbürger. Der orthodoxe Christ ist aufgerufen, sein Vaterland, im Sinne eines bestimmten Territoriums, zu lieben, desgleichen seine über die Welt verstreuten Blutsbrüder. Diese Liebe ist eine Art, das göttliche Gebot der Nächstenliebe zu befolgen, welches die Liebe zur Familie, den Volksangehörigen sowie den Mitbürgern einschließt.
Der Patriotismus des orthodoxen Christen soll tätig sein. Er äußert sich in der Verteidigung des Vaterlands gegen den Feind, in der Arbeit zum Wohle der Heimat, im Einsatz für das öffentliche Leben, einschließlich der Teilnahme an den Angelegenheiten der Staatsverwaltung. Der Christ ist dazu aufgefordert, die nationale Kultur und das nationale Selbstbewußtsein zu wahren und wei-terzuentwickeln.
Wenn die Nation — bürgerlich oder ethnisch — vollständig oder überwiegend eine monokonfessionelle orthodoxe Gemeinschaft ist, kann sie in gewissem Sinne als einheitliche Glaubensgemeinschaft betrachtet werden — als orthodoxes Volk.
II.4. Gleichzeitig können nationale Gefühle Anlaß zu sündhaften Erscheinungen geben, wie aggressivem Nationalismus, Xenophobie, nationaler Auserwähltheit sowie interethnischer Feindschaft. Nicht selten führen diese Phänomene in ihrer äußersten Ausprägung zur Einschränkung der Rechte der Person und der Völker, zu Krieg sowie anderen Äußerungen von Gewalt.
Der orthodoxen Ethik widerspricht jede Einteilung der Völker in bessere und schlechtere wie auch die Herabwürdigung jeglicher ethnischer oder bürgerlicher Nation. Noch weniger läßt sich die Orthodoxie mit solchen Lehren vereinbaren, die die Nation an die Stelle Gottes setzen oder den Glauben lediglich zu einem Aspekt des nationalen Selbstbewußtseins reduzieren.
Indem sie sich derartigen sündhaften Erscheinungen widersetzt, erfüllt die Orthodoxe Kirche ihren Auftrag der Versöhnung einander feindlich gesinnter Nationen und ihrer Vertreter. Dementsprechend bezieht sie keine Stellung in interethnischen Konflikten, mit Ausnahme solcher Fälle, in denen seitens einer der Parteien eindeutig Aggression betrieben bzw. Ungerechtigkeit geübt wird.
III. Kirche und Staat
III.1. Als gottmenschlicher Organismus besitzt die Kirche nicht nur eine sakramentale, von den Stürmen der Welt unbeeinträchtigt bleibende Natur, sondern zugleich eine historisch gewachsene Komponente, die mit der äußeren Welt, einschließlich des Staates, in Berührung kommt und mit ihr zusammenwirkt. Der Staat, der zum Zweck der Regelung der irdischen Angelegenheiten besteht, kommt seinerseits in Kontakt mit der Kirche und arbeitet mit ihr zusammen. Die Wechselbeziehungen zwischen dem Staat und den Anhängern der Wahren Religion hatten im Laufe der Geschichte unterschiedliche Prägung.
Die Keimzelle der menschlichen Gesellschaft war die Familie. Die heilige Geschichte des Alten Testaments belegt, daß der Staat nicht gleich entstanden ist. Bis zum Auszug der Brüder Josephs nach Ägypten war das alttestamentliche Volk | nicht staatlich organisiert, sondern es herrschte die patriarchalische Stammes- l gemeinschaft vor. Der Staat bildete sich allmählich in der Zeit der Richter heraus. Als Ergebnis einer komplexen, von Gottes Vorsehung geleiteten historischen ^ Entwicklung führte die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Verhältnisse zur Entstehung des Staates.
Das alte Israel verkörperte bis zur Zeit der Könige eine authentische Theokratie, d.h. Gottesherrschaft, die einzige der Geschichte. Indem sich jedoch dieGesellschaft von der Gehorsamspflicht gegenüber Gott als dem Begründer der , irdischen Angelegenheiten entfernte, kam bei den Menschen der Gedanke an die Notwendigkeit eines irdischen Statthalters auf. Wohl nahm der Herr die Wahl der Menschen hin und sanktionierte die neue Herrschaftsform, doch bedauerte Er ihren Abfall von der Gottesherrschaft: „und der Herr sagte zu Samuel: Hör auf die Stimme des Volkes in allem, was sie zu dir sagen. Denn nicht haben sie dich verworfen, sondern mich haben sie verworfen: Ich soll nicht mehr ihr König sein (…). Doch hör jetzt auf ihre Stimme, warne sie aber eindringlich, und mach ihnen bekannt, welche Rechte der König hat, der über sie herrschen wird» (1 Sam 8.7, 9).
Daher soll die Entstehung des irdischen Staates nicht als eine ursprünglich von Gott gesetzte Tatsache, sondern als eine von Gott den Menschen gewährte Möglichkeit verstanden werden, ihr öffentliches Leben auf der Grundlage ihrer freien Willensäußerung zu ordnen, auf daß eine solche Ordnung — als Antwort auf die durch Sünde verdorbene irdische Wirklichkeit — noch größeren Sünden mittels der Organe weltlicher Gewalt zu entkommen hilft. Zugleich spricht der Herr durch den Mund Samuels deutlich davon, daß er von dieser Gewalt Treue zu Seinen Geboten und gute Taten erwartet: „Seht, hier ist euer König, den ihr verlangt und ‘ den ihr erwählt habt. Ja, der Herr hat euch einen König gegeben. Wenn ihr den , Herrn fürchtet und ihm dient, wenn ihr auf seine Stimme hört und euch seinem • Befehl nicht widersetzt, wenn sowohl ihr als auch der König, der über euch herrscht, dem Herrn, eurem Gott, folgt (dann geht es euch gut). Wenn ihr aber nicht auf die Stimme des Herrn hört und euch seinem Befehl widersetzt, dann wird die Hand des Herrn gegen euch (ausgestreckt) sein wie gegen eure Väter» (1 Sam 12.13-15). Als Saul gegen die Gebote des Herrn verstieß, verwarf ihn Gott (1 Sam 16.1), indem Er Samuel befahl, Seinen zweiten Auserwählten, David, den Sohn des einfachen Bürgers Isai, zum König des Reichs zu salben.
Der Gottessohn, dem alle Macht im Himmel wie auf Erden gegeben ist (Mt 28.18), unterwarf Sich durch Seine Menschwerdung der irdischen Ordnung der Dinge und gehorchte auch den Trägern der Staatsgewalt. Zu Seinem Kreuziger Pilatus, dem römischen Statthalter in Jerusalem, sprach der Herr: „Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre» (Joh 19.11).Als Antwort auf die Fangfrage des Pharisäers, ob die Zahlung von Steuern an den Kaiser erlaubt sei, sagte der Erlöser: „So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört» (Mt 22. 21).
In der Darlegung der Lehre Christi von dem richtigen Verhältnis zur Staatsgewalt schrieb der Apostel Paulus: „Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, , wird dem Gericht verfallen. Vor den Trägern der Macht hat sich nicht die gute, sondern die böse Tat zu fürchten; willst du also ohne Furcht vor der staatlichen Gewalt leben, dann tue das Gute, so daß du ihre Anerkennung findest. Sie steht im Dienste Gottes und verlangt, daß du das Gute tust. Wenn du aber Böses tust, fürchte dich! Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tut. Deshalb ist es notwendig, Gehorsam zu leisten, nicht allein aus Furcht vor der Strafe, sondern vor allem um des Gewissens willen. Das ist auch der Grund, warum ihr Steuern zahlt; denn in Gottes Auftrag handeln jene, die Steuern einzuziehen haben. Gebt allen, was ihr ihnen schuldig seid, sei es Steuer oder Zoll, sei es Furcht oder Ehre» (Rom 13.1-7). Den gleichen Gedanken äußerte auch der Apostel Petrus: „Unterwerft euch um des Herrn willen jeder menschlichen Ordnung: dem Kaiser, weil er über allen steht, den Statthaltern, weil sie von ihm entsandt sind, um die zu bestrafen, die Böses tun, und die auszuzeichnen, die Gutes tun. Denn es ist der Wille Gottes, daß ihr durch eure guten Taten die Unwissenheit unverständiger Menschen zum Schweigen bringt. Handelt als Freie, aber nicht als solche, die die Freiheit als Deckmantel für das Böse nehmen, sondern wie Knechte Gottes» (1 Petr 2.13-16). ‘ Die Apostel lehrten die Christen Gehorsam gegen die Staatsgewalt, unabhängig von deren Verhältnis zur Kirche. Im apostolischen Jahrhundert wurde die Kirche Christi durch die Provinzgewalt von Judäa wie durch die römische Staatsgewalt verfolgt. Nichtsdestoweniger beteten die Märtyrer und die anderen Christen zuj dieser Zeit für die Verfolger und erkannten ihre Macht an.
III.2. Der Fall Adams brachte Sünde und Laster in die Welt — gegen die gesellschaftlicher Widerstand geleistet werden muß -, deren erster Ausbruch der Mord Kains an Abel war (Gen 4.1-16). Sich dessen bewußt fingen die Menschen aller bekannten Gesellschaften an, sich Gesetze zu geben, das Böse in Schranken zu halten und das Gute zu fördern. Für das alttestamentliche Volk war Gott Selbst der Gesetzgeber, der Vorschriften verkündete, die nicht ausschließlich nur das religiöse, sondern vielmehr auch das öffentliche Leben regelten (Ex 20-23).
Als unerläßlicher Bestandteil des Lebens in der gefallenen Welt, in der Person wie Gesellschaft des Schutzes gegen die gefährlichen Erscheinungsformen der Sünde bedürfen, ist der Staat von Gott gesegnet. Gleichzeitig ergibt sich die Notwendigkeit des Staates nicht aus dem Willen Gottes in unmittelbarem Bezug auf den erstgeschaffenen Adam, sondern erst aus den Folgen des Sündenfalls sowie der Übereinstimmung zwischen denjenigen Handlungen, die die Herrschaft der Sünde über die Welt begrenzen wollen, einerseits, und Seinem Willen andererseits. Die Heilige Schrift ruft die Machthabenden auf, die staatliche Gewalt zur Abwehr des Bösen und zur Unterstützung des Guten zu gebrauchen, worin der moralische Sinn der Existenz des Staates gesehen wird (Rom 13.3-4). Aus dem oben Gesagten ergibt sich, daß Anarchie die Abwesenheit von gebührender Ordnung von Staat und Gesellschaft ist, während Aufrufe hierzu, ebenso wie Versuche, diese zu errichten, der christlichen Weltanschauung zuwiderlaufen (Rom 13.2).
Die Kirche gebietet ihren Kindern nicht nur, der staatlichen Gewalt unabhängig von den Überzeugungen und Glaubensbekenntnissen ihrer Träger Gehorsam zu leisten, sondern sie betet auch für sie, „damit wir in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können» (1 Tim 2.2). Gleichzeitig dürfen die Christen die Staatsgewalt jedoch nicht verabsolutieren und die Grenzen ihres rein irdischen, zeitlichen und vergänglichen Sinns ignorieren, der durch das Vorhandensein der Sünde in der Welt und die Notwendigkeit, ihr Einhalt zu gebieten, bedingt ist. Nach der Lehre der Kirche hat auch die Staatsgewalt nicht das Recht, sich durch Ausweitung ihrer Grenzen bis zur vollen Autonomie gegenüber Gott und der von Ihm geschaffenen Ordnung der Dinge selbst zu verabsolutieren, was zu Machtmißbrauch und sogar zur Vergöttlichung der Herrschenden führen könnte. Der Staat, wie andere von Menschen geschaffenen Einrichtungen auch, kann, selbst wenn er auf das Gute gerichtet ist, die Tendenz zur Umwandlung in eine sich selbst zerstörende Institution aufweisen. Zahlreiche historische Beispiele einer solchen Umwandlung belegen, daß in diesem Fall der Staat seine ihm ursprünglich zugedachte Bestimmung verliert.
II.3. In den Beziehungen zwischen Kirche und Staat muß ihre wesensmäßige Verschiedenheit beachtet werden. Die Kirche ist unmittelbar durch Gott Selbst — unseren Herrn Jesus Christus — gegründet, während die Errichtung der Staatsgewalt durch Gott im Laufe eines historischen Prozesses mittelbar erfolgt ist. Das Ziel der Kirche ist das ewige Heil der Menschen, das Ziel des Staates besteht in deren irdischem Wohlergehen.
„Mein Reich ist nicht von dieser Welt», sagt der Erlöser (Joh 18.36). „Diese Welt» ist zum Teil Gott unterworfen, zum größeren Teil aber trachtet sie danach, gegenüber dem eigenen Schöpfer und Herrn autonom zu werden. Sofern die Welt nicht Gott Untertan ist, untersteht sie dem „Vater der Lüge» und „steht unter der Macht des Bösen» (Joh 8.44; 1 Joh 5.19). Die Kirche ist „der Leib Christi» (1 Kor 12.27), „die Säule und das Fundament der Wahrheit» (1 Tim 3.15); in ihrer sakramentalen Natur ist weder Böses noch ein Schatten der Finsternis zu finden. Sofern der Staat ein Teil von „dieser Welt» ist, hat er keinen Anteil am Reich Gottes, da dort, wo Christus „alles und in allen» (Kol 3.11) ist, kein Zwang und kein Gegensatz zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen besteht und demzufolge auch die Notwendigkeit des Staates entfällt.
In der heutigen Welt trägt der Staat gewöhnlich einen säkularen Charakter und ist an keinerlei religiöse Verpflichtungen gebunden. Sein Zusammenwirken mit der Kirche ist auf eine bestimmte Anzahl von Bereichen beschränkt und gründet sich auf die gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen. Jedoch ist sich der Staat in der Regel bewußt, daß das irdische Wohlergehen undenkbar ist ohne die Beachtung gewisser moralischer Normen — solcher Normen, die auch für das ewige Heil des Menschen unerläßlich sind. Deshalb können Aufgaben und Tätigkeit von Kirche und Staat nicht nur in der Erlangung von rein irdischem Nutzen, sondern auch in der Verwirklichung des Heilsauftrags der Kirche übereinstimmen.
Das Prinzip der Weltlichkeit des Staates darf nicht im Sinne einer radikalen Verdrängung der Religion aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens, insbesondere des Ausschlusses der religiösen Vereinigungen von der Mitwirkung bei der Bewältigung öffentlich relevanter Aufgaben oder des Entzugs ihres Rechts auf Bewertung der Tätigkeit der Staatsgewalt ausgelegt werden. Dieses Prinzip impliziert lediglich eine gewisse Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche der Kirche und der Staatsgewalt, die Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten.
Die Kirche darf nicht Funktionen an sich ziehen, die zum Zuständigkeitsbereich des Staates gehören, wie etwa: gewaltsamen Widerstand gegen die Sünde, Inanspruchnahme staatlicher Vollmachten, Übernahme von Funktionen der Staatsgewalt, die Zwang oder Einschränkung beinhalten. Allerdings darf die Kirche die Staatsmacht bitten oder gar auffordern, in bestimmten Fällen ihre Macht einzusetzen; das Recht zur Entscheidung m dieser Frage bleibt jedoch dem Staat vorbehalten.
Der Staat darf sich nicht in das Leben der Kirche, in ihre Verwaltung, Glaubenslehre, ihren Gottesdienst, ihre geistliche Praxis usf. einmischen, wie auch grundsätzlich in die Tätigkeit der kanonischen kirchlichen Einrichtungen, mit Ausnahme von denjenigen Fällen, die eine Tätigkeit der Kirche als juristische Person voraussetzen, die entsprechende Kontakte zum Staat sowie seinen gesetzgebenden und ausführenden Institutionen aufnehmen muß. Die Kirche erwartet vom Staat Achtung ihrer kanonischen Normen und anderer innerer Bestimmungen.
III.4. Im Laufe der Geschichte haben sich verschiedene Muster der Beziehungen zwischen der Orthodoxen Kirche und dem Staat herausgebildet.
In der orthodoxen Tradition hat sich eine bestimmte Vorstellung von der idealen Form der Kirche-Staat-Beziehung entwickelt. Davon ausgehend, daß die Beziehung zwischen Kirche und Staat eine wechselseitige ist, konnte die oben genannte ideale Form nur in einem Staat hervorgebracht werden, der die ; Orthodoxe Kirche als das höchste Heiligtum des Volkes anerkennt — mit anderen j Worten: in einem orthodoxen Staat.
Versuche, ihnen eine solche Form zu geben, wurden in Byzanz unternommen, \ wo die Grundsätze der Beziehungen zwischen Kirche und Staat in den Kanones, j den imperialen Staatsgesetzen wie auch in den Schriften der Heiligen Väter ihren Niederschlag fanden. In ihrer Gesamtheit erhielten diese Grundsätze die Bezeich- ; nung Symphonie von Kirche und Staat. Ihr Wesen besteht in gegenseitiger Zusammenarbeit, Unterstützung sowie Verantwortung unter Nichteinmischung in die jeweiligen, ausdrücklich vorbehaltenen Kompetenzbereiche. Der Bischof untersteht der staatlichen Gewalt als Untertan und nicht etwa, weil ihm die , bischöfliche Gewalt von Vertretern der Staatsmacht gewährt würde. Genauso , untersteht auch der Vertreter der Staatsmacht dem Bischof als ein Heil suchendes Mitglied der Kirche und nicht, weil ihm seine Gewalt vom Bischof übertragen wäre. In den symphonischen Beziehungen zur Kirche sucht der Staat ihre moralische Unterstützung, ihr Gebet für sich selbst und ihren Segen für die Tätigkeit zugunsten des Ziels der Wohlfahrt der Bürger, während die Kirche sich ihrerseits der Förderung des Staates erfreut, geeignete Bedingungen für die Predigt und das geistige Wohl ihrer Kinder zu schaffen, die gleichzeitig auch Bürger des Staates sind. l In der sechsten Novelle des hl. Justinianos ist das der Symphonie zwischen i Kirche und Staat zugrunde liegende Prinzip formuliert: „Die erhabensten Güter, jdie den Menschen durch die höchste Gütigkeit Gottes verliehen sind, sind das Priestertum und das Königtum, von denen ersteres (das Priestertum, die kirchliche i Macht) sich um die göttlichen Angelegenheiten kümmert und letzteres (das Königtum, die Staatsmacht) sich der menschlichen Anliegen annimmt und diese i leitet, während beide, in Ansehung ihres gemeinsamen Ursprungs, eine Ver-‘schönerung des menschlichen Lebens bewirken. Deshalb liegt den Königen nichts ; mehr am Herzen als die Ehrung der Geistlichen, die ihrerseits ihren Dienst an den | Königen durch ununterbrochene Fürbitte vor Gott erfüllen. Und wenn einerseits ‘die Geistlichkeit in allem wohlgeordnet und gottgefällig ist, andererseits auch die .’Staatsmacht den ihr anvertrauten Staat wahrhaftig leitet, so wird sich zwischen ihnen vollkommene Eintracht in Bezug auf alles einstellen, was dem Nutzen und dem Wohlergehen des menschlichen Geschlechts dient. Deshalb gelten unsere ‘größten Bemühungen der Wahrung der rechten Göttlichen Dogmen und der Ehrung der Geistlichkeit, in der Hoffnung, auf diesem Weg hohe Göttliche Güter zu erlangen und diejenigen, an deren Besitz wir uns erfreuen, in Gewißheit zu ‘behalten.» Von dieser Norm geleitet erkannte Kaiser Justinianos in seinen i Novellen den Kanones die Kraft staatlicher Gesetze zu. Die klassische byzantinische Formel der Beziehung von staatlicher und kirchlicher Macht ist in der „Epanagoge» belegt (2. Hälfte des 9. Jh.): „Die weltliche Macht und die Geistlichkeit verhalten sich zueinander wie Leib und Seele und sind für die staatliche Ordnung ebenso unentbehrlich wie Leib und Seele im lebendigen Menschen. In der Verbindung sowie dem Einvernehmen zwischen ihnen liegt das Staatswohl begründet.»
Die Symphonie hat allerdings auch in Byzanz nie in reinster Form bestanden. In der Praxis häuften sich Verstöße gegen die Ordnung und ihre Verkehrung. Nicht selten wurde die Kirche Objekt cäsaropapistischer Forderungen seitens der Staatsmacht. Im wesentlichen bestanden diese in der Inanspruchnahme des Entscheidungsrechts hinsichtlich der Ordnung kirchlicher Angelegenheiten durch das Staatsoberhaupt, den Kaiser. Neben der sündhaften menschlichen Machtgier hatten solche Forderungen auch eine historische Ursache. Die christlichen Kaiser von Byzanz waren direkte Nachfolger der römischen Principes, die unter ihren zahlreichen Titeln auch den Titel Pontifex Maximus — oberster Priester — führten. Die cäsaropapistische Tendenz äußerte sich in der Politik der häretischen Kaiser unvergleichlich plumper und für die Kirche gefährlicher, insbesondere in der ikonoklastischen Epoche. Die russischen Zaren verfügten im Unterschied zu den byzantinischen Basileis über ein anderes Vermächtnis. Daher und aus weiteren historischen Gründen zeichneten sich die Beziehungen zwischen der kirchlichen und der staatlichen Macht im alten Rußland durch größere Harmonie aus. Allerdings kamen Verstöße gegen die kanonischen Normen auch hier vor (die Herrschaft von Ivan dem] Schrecklichen, die Auseinandersetzung zwischen dem Zaren Alexej Michailovic! und dem Patriarchen Nikon).
Was die Synodale Epoche betrifft, so ist die unbestreitbare Mißachtung der symphonischen Normen im Laufe von zwei Jahrhunderten Kirchengeschichte auf den eindeutig nachweisbaren Einfluß der protestantischen Territorial- und Staatskirchendoktrin (siehe unten), auf die russische Rechtsauffassung und das politische Leben zurückzuführen. Einen Versuch, das Ideal der Symphonie unter den neuen Bedingungen zu verwirklichen, unternahm das Landeskonzil in den Jahren 1917/18, als das Reich zerfiel. In der Deklaration, die das Verhältnis von Kirche und Staat vorwegzunehmen suchte, wurde die Forderung nach Trennung von Kirche und Staat mit dem Wunsch verglichen, daß „die Sonne nicht mehr scheine, und das Feuer nicht mehr wärme. Nach dem inneren Gesetz ihres Daseins kann die Kirche nicht auf ihren Auftrag verzichten, zu leuchten, das ganze Leben der Menschheit zu verwandeln und es mit ihren Strahlen zu durchdringen.» In , den Bestimmungen des Konzils über den rechtlichen Status der Orthodoxen f Russischen Kirche wird der Staat insbesondere gefordert, folgende Richtlinien j anzunehmen: „Die Orthodoxe Russische Kirche, die Teil der vollkommenen j Universalen Kirche Christi ist, nimmt eine gegenüber anderen Konfessionen im > Russischen Staat erstrangige öffentlich-rechtliche Stellung ein, die ihr in ihrer; Eigenschaft als dem größten Heiligtum der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung wie auch als einer außerordentlichen, am Aufbau des Russischen Staates mitwirkenden geschichtlichen Kraft gebührt (…). Die Verordnungen und Gesetzesbestimmungen, die von der Orthodoxen Kirche nach dem von ihr festgelegten Verfahren erlassen werden, gerechnet vom Tag ihrer Annahme durch die kirchliche Gewalt, sowie die Akte der Kirchenverwaltung und des Kirchengerichts werden durch den Staat in ihrer Rechtskraft und -bedeutung anerkannt, sofern sie nicht gegen die staatlichen Gesetze verstoßen (…). Staatliche Gesetze, die die Orthodoxe Kirche betreffen, werden nur mit Zustimmung der kirchlichen Amtsgewalt verabschiedet.» Die nachfolgenden Landeskonzilien fanden unter Bedingungen statt, die infolge der historischen Ereignisse eine Rückkehr zu den vorrevolutionären Grundsätzen der Beziehungen zwischen Staat und Kirche nicht mehr als möglich erscheinen ließen. Nichtsdestoweniger betonte die Kirche ihre traditionelle Rolle im Leben der Gesellschaft und erklärte ihre Bereitschaft zur Mitarbeit im öffentlichen Leben. So kam das Landeskonzil 1990 zu der Feststellung: „Im Laufe der tausendjährigen Geschichte erzog die Russisch-Orthodoxe Kirche die Gläubigen im Geiste des Patriotismus und der Friedensliebe. Der Patriotismus äußert sich im sorgfältigen Umgang mit dem historischen Erbe des Vaterlands, dem tatkräftigen Staatsbürgerbewußtsein, das die Anteilnahme an ‘den Freuden und Nöten des Volkes einschließt, in hingebungsvoller und gewissenhafter Arbeit, tätigem Bemühen um den moralischen Zustand der Gesellschaft sowie Sorge um die Bewahrung der Natur» (aus der Botschaft des Konzils).
Nicht ohne den Einfluß des „Gottesstaats» des hl. Augustinus setzte sich im europäischen Westen des Mittelalters die „Zwei-Schwerter-Doktrin» durch, der gemäß beide Gewalten — kirchliche und staatliche — unmittelbar bzw. mittelbar dem Bischof von Rom unterstehen. Die Päpste hatten die absolute monarchische Gewalt über das päpstliche Gebiet, einen Teil Italiens, inne, dessen Überrest der heutige Vatikan ist; viele Bischöfe, insbesondere im feudal zersplitterten Deutschland, waren gleichzeitig Fürsten, die die staatliche Jurisdiktion über ihr Gebiet, ihre Regierungen sowie das von ihnen befehligte Heer ausübten.
Im Zuge der Reformation wurden die Päpste und katholischen Bischöfe in den nunmehr protestantischen Ländern ihre staatlichen Macht enthoben. Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert wurden schließlich auch in den katholischen Ländern die rechtlichen Bedingungen dahingehend geändert, daß die Katholische Kirche in — der Praxis von der staatlichen Macht entfernt wurde. Eine noch heute geltende Wirkung der „Zwei-Schwerter-Doktrin» außerhalb des Territoriums des Vatikans stellt allerdings die Praxis der Konkordatsverträge dar, die zwischen der Römischen Kurie und den Staaten, auf deren Gebiet sich katholische Gemeinden befinden, geschlossen werden. Infolgedessen wird der rechtliche Status dieser Gemeinden in vielen Ländern nicht ausschließlich durch die inneren Gesetze, sondern zusätzlich noch durch das Völkerrecht, dessen Subjekt der Vatikanstaat ist, bestimmt In den Ländern, in denen die Reformation obsiegte, desgleichen später auch in einigen katholischen Ländern, setzte sich in der Beziehung zwischen Staat und Kirche das territoriale Prinzip durch, welches die volle staatliche Souveränität über das entsprechende Territorium, einschließlich der hier befindlichen religiösen Gemeinden, beinhaltet. Zur Losung dieses Systems der gegenseitigen Beziehungen wurde die Formel cuius est regio, illius est religio (wessen Land, dessen Religion). In seiner konsequenten Durchführung impliziert dieser Grundsatz die Entfremdung der Anhänger eines Glaubensbekenntnisses, das von dem des Trägers der höchsten staatlichen Gewalt verschieden ist, vom Staat (in der Praxis wurde das mehrmals verwirklicht). Tatsächlich behauptete sich jedoch eine gemäßigtere Form der Verwirklichung dieses Prinzips, das sogenannte Staatskir-chentum. In diesem Fall genießt die religiöse Gemeinschaft, zu der konventionell die Mehrheit der Bevölkerung zählt und zu der auch das Staatsoberhaupt gehört, das offiziell Oberhaupt der Kirche genannt wird, die privilegierte Stellung einer Staatskirche. Die Verbindung von Bestandteilen dieses Systems der Kirche-Staat-Beziehung einerseits mit den erhaltengebliebenen Elementen der traditionellen, von Byzanz ererbten Symphonie andererseits hat die Grundlage für die Eigenart des rechtlichen Status der Orthodoxen Kirche während der Synodalen Epoche in Rußland geschaffen.
In den Vereinigten Staaten von Amerika, ursprünglich ein multikonfessionelles Staatengebilde, hat sich das Prinzip der radikalen Trennung von Kirche und Staatj durchgesetzt, welches die Neutralität der Staatsgewalt gegenüber allen Konfes-j sionen voraussetzte. Absolute Neutralität ist jedoch nur in den seltensten Fällen; möglich. Jeder Staat hat auf die tatsächliche konfessionelle Zusammensetzung! seiner Bevölkerung Rücksicht zu nehmen. Keine der christlichen Denominationen; < in den Vereinigten Staaten besitzt für sich die Mehrheit, die überwältigende Mehrheit der Einwohner der USA besteht jedoch namentlich aus Christen. Diese Tatsache schlägt sich insbesondere in der Zeremonie des Eids des Präsidenten auf die Bibel, der Erklärung des Sonntags zum offiziell arbeitsfreien Tag usw. nieder.
Das Prinzip der Trennung der Kirche vom Staat hat jedoch auch eine weitere genealogische Quelle. Auf dem europäischen Kontinent entwickelte es sich als Ergebnis des antiklerikalen oder unmittelbar antikirchlichen Kampfes, der vor-^ nehmlich aus der Geschichte der Französischen Revolution wohlbekannt ist. In i solchen Situationen erfolgt die Trennung der Kirche vom Staat nicht angesichts; der Vielzahl der Glaubensbekenntnisse (Multikonfessionalität) der Staatsbevölke- ‘ rung, sondern vielmehr infolge der Verbindung des Staates mit antichristlichen’, oder allgemein antireligiösen Weltanschauungen, wobei hier die Neutralität des i Staates in Bezug auf die Religion und selbst sein eigener ausschließlich weltlicher Charakter nicht mehr gewahrt sind. Daraus folgen für die Kirche in den meisten Fällen Zwang, Einschränkungen ihrer Rechte, Diskriminierung oder unmittelbare Verfolgungen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat m vielen Ländern zahl-‘ reiche Beispiele für ein solches Verhältnis des Staates zur Religion und zur Kirche geboten.
Es besteht aber noch eine weitere Form der Beziehungen zwischen Staat und Kirche, die zwischen der radikalen Trennung der Kirche vom Staat, bei der die Kirche den Status einer privaten Körperschaft trägt, einerseits, und dem Staats-kirchentum andererseits zu positionieren ist. Es handelt sich hier um den Status der Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts. In diesem Fall kann die Kirche über eine Anzahl von Privilegien verfügen und Verpflichtungen tragen, die ihr’ durch den Staat gewährt bzw. auferlegt worden sind, ohne im eigentlichen Sinne des Wortes Staatskirche zu sein.
In einer Reihe gegenwärtiger Staaten — wie Großbritannien, Finnland, Norwegen, Dänemark, Griechenland, um einige Beispiele zu nennen, — besteht Staatskirchentum. Andere Staaten, deren Anzahl in beständiger Zunahme begriffen ist (USA, Frankreich), regeln ihre Beziehungen zu den religiösen Gemeinden auf der Grundlage der völligen Trennung voneinander. In Deutschland ‘besitzen die Katholische, die Evangelische sowie einige weitere Kirchen den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, währenddessen andere religiöse Gemeinschaften vom Staat völlig getrennt sind und als private Körperschaften angesehen werden. In der Praxis hängt jedoch in der Mehrheit dieser Länder die .tatsächliche Stellung der religiösen Gemeinschaften in nur geringem Maße davon ab, ob sie vom Staat getrennt sind oder nicht. In einigen Staaten, in denen Staatskirchentum besteht, beschränkt sich dieser Status zum einen auf die Steuererhebung für den Unterhalt der Kirche durch die staatlichen Steuerbehörden, zum anderen auf die Anerkennung der bei der Taufe von Neugeborenen oder bei der kirchlichen Trauung ausgestellten kirchlichen Urkunden als genauso rechts-ikräftig wie die Eintragung des zivilrechtlichen Standes, die durch die staatlichen [Verwaltungsorgane vorgenommen wird.
Ihren Dienst an Gott und den Menschen erfüllt die Orthodoxe Kirche gegenwärtig in verschiedenen Ländern. In einigen stellt sie das nationale Glaubensbekenntnis dar (Griechenland, Rumänien, Bulgarien), in anderen, multinationalen Staaten, ist sie die Religion der nationalen Mehrheit (Rußland), und in einer dritten Gruppe von Staaten bilden ihre Angehörigen eine religiöse Minderheit, die entweder unter Christen anderer Denominationen (USA, Polen, Finnland) oder unter Andersgläubigen (Syrien, Türkei, Japan) leben. In einer geringen Anzahl von Ländern besitzt die Orthodoxe Kirche den Status einer Staatsreligion (Griechenland, Finnland, Zypern), in anderen ist sie vom Staat getrennt. Die konkreten rechtlichen und politischen Bedingungen, die für die Orthodoxen Landeskirchen gelten, weisen ebenfalls Unterschiede untereinander auf. Dessen ungeachtet folgen sie alle in ihrem inneren Aufbau sowie ihrem Verhältnis zur Staatsmacht den Geboten Christi, der Lehre der Apostel, den heiligen Kanones sowie der zweitausendjährigen historischen Erfahrung und finden unter allen Umständen die Möglichkeit, ihre gottgebotenen Ziele zu erfüllen, indem sie auf diese Weise ihre unvergängliche Natur und ihren himmlischen, Göttlichen Ursprung offenbaren.
III.5. In Anbetracht ihrer wesensmäßigen Unterschiede greifen die Kirche und der Staat zur Erreichung ihrer Ziele auf verschiedene Mittel zurück. Der Staat stützt sich hauptsächlich auf die materielle Gewalt, einschließlich des Zwanges, sowie auf die entsprechenden weltlichen Ideensysteme. Demgegenüber verfügt die Kirche über religiös-moralische Mittel zur geistigen Leitung ihrer Herde sowie zur Gewinnung neuer Kinder.
Die Kirche verkündigt unfehlbar die Wahrheit Christi und lehrt die Menschen moralische Gebote, deren Quelle Gott Selbst ist und die es ihr nicht erlauben, Änderungen in ihrer Lehre vorzunehmen. Ebenfalls ist es ihr nicht erlaubt, die Wahrheit zu verschweigen und deren Verkündigung Abbruch zu tun, welche anderen Lehren auch immer von den staatlichen Institutionen vorgeschrieben und verbreitet werden mögen. In dieser Hinsicht genießt die Kirche volle Freiheit gegenüber dem Staat. Um der unbeeinträchtigten und innerlich freien Verkündigung der Wahrheit willen hat die Kirche wiederholt in der Geschichte Verfolgungen durch die Feinde Christi erleiden müssen. Selbst die verfolgte Kirche ist aber aufgerufen, die Verfolgung mit Geduld zu ertragen, ohne dem sie verfolgenden Staat die Loyalität zu verweigern.
Die Staatsgewalt besitzt die juristische Souveränität über das staatliche Territorium. Demzufolge bestimmt sie auch den jeweiligen rechtlichen Status der Orthodoxen Landeskirche oder von Teilen von ihr, indem sie ihr die Möglichkeit einräumt, dem kirchlichen Auftrag in vollem Maße gerecht zu werden, bzw. diese Möglichkeit einschränkt. Auf diese Weise trägt die Staatsgewalt auch Verantwortung vor der Ewigen Wahrheit und trifft letztendlich die Vorentscheidung über ihr eigenes Schicksal. Die Kirche wahrt Loyalität gegenüber dem Staat, jedoch steht über dieser Loyalitätspflicht das Göttliche Gebot der unbedingten Erfüllung des Heilsauftrags unter allen Bedingungen und unter allen Umständen.
Wenn die staatliche Macht die orthodoxen Gläubigen zur Abkehr von Christus und Seiner Kirche sowie zu sündhaften, der Seele abträglichen Taten nötigt, so ist die Kirche gehalten, dem Staat den Gehorsam zu verweigern. Der Christ, der die Gebote des Gewissens befolgt, ist nicht verpflichtet, dem zur schweren Sünde nötigenden staatlichen Befehl nachzukommen. Sollte die gleichzeitige Erfüllung der Gehorsamspflicht gegenüber dem Staat einerseits und der Gebote aus der Vollkommenheit der Wahrheit andererseits nicht möglich sein, ist die Kirchenleitung berechtigt, zur Klärung des Widerspruchs folgende Maßnahmen zu ergreifen: Aufnahme eines direkten Dialogs mit der Staatsgewalt über das aufgekommene Problem, Aufruf an das Volk, die Mechanismen der Volksherrschaft zur Änderung der Gesetzgebung sowie zur Revision der Entscheidungen er Staatsgewalt anzuwenden, Appell an die internationalen Institutionen sowie . Internationale öffentliche Meinung, des weiteren an ihre Kinder, gewaltlosen zivilen Widerstand zu leisten.
III.6. Bas Prinzip der Gewissensfreiheit, welches als juristischer Terminus im 18.-19. Jahrhundert formuliert wurde, wird erst im Anschluß an den Ersten Weltkrieg zu einem grundlegenden konstituierenden Bestandteil der zwischenmenschlichen jBeziehungen. Mittlerweile hat es Eingang in die Allgemeine Deklaration der i Menschenrechte sowie die Verfassungen der Mehrheit der Staaten gefunden. Die Entwicklung des Prinzips der Gewissensfreiheit ist ein Beleg dafür, daß heutzutage die Religion von einer „öffentlichen» zu einer „privaten» Angelegenheit des Menschen geworden ist. An sich ist diese Entwicklung ein Beweis für den Zerfall des geistigen Wertesystems, dafür daß der überwiegende Teil der Gesellschaft, der , sich zum Prinzip der Gewissensfreiheit bekennt, des Strebens nach Heil verlustig gegangen ist. Und wenn der Staat ursprünglich als Instrument der Durchsetzung des göttlichen Gesetzes in der Gesellschaft gegründet wurde, so verwandelt die jGewissensfreiheit den Staat endgültig in eine ausschließlich irdische, an keine [religiösen Verpflichtungen gebundene Institution.
Die Durchsetzung der Gewissensfreiheit als legales Prinzip verweist auf den Verlust von religiösen Zielen und Werten in der Gesellschaft, den massenhaften Abfall vom Glauben sowie der faktischen Indifferenz gegenüber dem Auftrag der Kirche und der Überwindung der Sünde. Dieses Prinzip erweist sich jedoch als eines der Mittel, die die Existenz der Kirche in der nichtreligiösen Welt ermöglichen, insofern es dem legalen Status der Kirche sowie ihrer Unabhängigkeit gegenüber den anders- oder nichtgläubigen Schichten der Gesellschaft zugrunde liegt.
Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates widerspricht nicht der christlichen Auffassung von der Berufung der Kirche in der Gesellschaft. Nichtsdestotrotz hat die Kirche die Pflicht, den Staat auf die Unzulässigkeit der Propagierung von Überzeugungen oder Handlungen hinzuweisen, die die totale Kontrolle über das Leben der Person, ihrer Ansichten und ihrer Beziehungen zu anderen Menschen, die Zerstörung der persönlichen, familiären oder gesellschaftlichen Sittlichkeit sowie die Verletzung der religiösen Gefühle zur Folge haben bzw. die die kulturelle und geistig-religiöse Eigenart des Volkes beeinträchtigen oder eine Gefahr für die heilige Gabe des Lebens darstellen. Bei der Verwirklichung ihrer sozialen, karitativen, bildungsbe-zogenen und sonstigen gesellschaftlichen Programme kann die Kirche mit der Unterstützung und Mitarbeit des Staates rechnen. Sie hat auch das Recht zu erwarten, daß der Staat bei der Gestaltung seiner Beziehungen zu den religiösen Vereinigungen auch die Zahl ihrer Anhänger, ihren Beitrag zur Schaffung des historisch-kulturellen und geistigen Erbes des Volkes sowie deren staatsbürgerliche Haltung berücksichtigt.
III.7. Die Form und die Methoden der Herrschaft sind in vieler Hinsicht durch den geistigen und sittlichen Zustand der Gesellschaft bedingt. Davon ausgehend anerkennt die Kirche die Wahl der Menschen oder erhebt zumindest keinen Einspruch gegen diese.
Zur Zeit der Richter, d.h. zur Zeit der Gesellschaftsordnung wie sie im Buch der Richter beschrieben wird, stützte sich die Staatsgewalt nicht auf ihre Zwangs befugnisse, sondern auf ihre durch Gott sanktionierte Autorität. Damit diese Autorität wirksam sein konnte, mußte der Glaube in der Gesellschaft sehr stark sein. Unter einer Monarchie bleibt die Staatsgewalt gottgegeben; bei ihrer Aus- ‘ Übung stützt sie sich jedoch nicht so sehr auf ihre geistige Autorität, sondern | vielmehr auf Zwang. Der Übergang von der Herrschaft der Richter zur Monarchie j bewies das Nachlassen des Glaubens, was dazu führte, daß der Unsichtbare Herrscher durch einen sichtbaren Herrscher ersetzt wurde. Die gegenwärtigen ! Demokratien, unter ihnen auch die mit monarchischen Formen, bedürfen nicht ; der göttlichen Sanktionierung der Macht. Sie sind eine Erscheinungsform der Macht in der säkularen Gesellschaft, die das Recht jedes mündigen Bürgers auf Willensäußerung auf dem Weg von Wahlen voraussetzt.
Eine Änderung der Herrschaftsform zugunsten einer tieferen religiösen Verwurzelung würde ohne die Vergeistigung der Gesellschaft unweigerlich in Betrug und Heuchelei ausarten, darüber hinaus zur Schwächung dieser Form sowie ihrer Herabwürdigung in den Augen der Menschen führen. Dennoch sollte die Möglichkeit einer solchen geistigen Wiedergeburt der Gesellschaft, infolge derer die religiös höhere Form des Staatsaufbaus als natürlich erachtet wird, nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Unter den Bedingungen der Knechtschaft jedoch rät der Apostel Paulus: „auch wenn du frei werden kannst, lebe lieber als Sklave weiter» (1 Kor 7.21). Gleichzeitig soll die Kirche ihre Aufmerksamkeit nicht vornehmlich auf die äußerliche Organisation der Gesellschaft, sondern auf den Zustand der Herzen ihrer Mitglieder richten. Vor diesem Hintergrund erachtet die Kirche sich nicht als zuständig, Änderungen an der Herrschaftsform vorzunehmen; in gleicher Richtung ist das Bischöfliche Konzil der Russischen Orthodoxen Kirche von 1994 zu verstehen, das die gesunde kirchliche Position hervorhob, „keinem bestimmten Staatsaufbau sowie keiner der bestehenden politischen Doktrinen den Vorrang einzuräumen».
III.8. Der Staat, einschließlich des säkularen, ist sich in der Regel seiner Berufung bewußt, das Leben des Volkes auf den Grundsätzen des Guten und der Gerechtigkeit zu ordnen und für die materielle und geistige Wohlfahrt der Gesellschaft
Sorge zu tragen. Aus diesem Grund kann die Kirche in Fragen, die das Wohl der Kirche selbst, ebenso wie das der Person und der Gesellschaft betreffen, mit dem Staat kooperieren. Aus Sicht der Kirche sollte eine solche Zusammenarbeit in ihrem Heilsauftrag enthalten sein, umfaßt doch dieser die allseitige Sorge für den Menschen. Die Kirche ist gefordert, sich an der Ordnung des menschlichen Lebens in allen Bereichen zu beteiligen, in denen das möglich ist, und ihre entsprechenden Bemühungen mit denen der Vertreter der Staatsgewalt in Einklang zu bringen.
Voraussetzungen der Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat sind: die innere Übereinstimmung der Mitwirkung der Kirche an Staatsaufgaben mit ihrem Wesen und Auftrag; das Nichtausüben eines Staatsdiktats im öffentlichen Wirken der Kirche; die Nichteinbeziehung der Kirche in Bereiche der Staatstätigkeit, in denen ihr Wirken aus kanonischen und sonstigen Gründen nicht möglich ist.
Die Bereiche der Zusammenarbeit von Kirche und Staat in der gegenwärtigen historischen Periode sind:
- Friedensschaffung auf internationaler, interethnischer sowie bürgerlicher Ebene; Förderung der Verständigung und Zusammenarbeit zwischen den Menschen, Völkern und Staaten;
- Sorge um die Erhaltung der Sittlichkeit in der Gesellschaft;
- geistig-spirituelle, kulturelle, sittliche sowie patriotische Bildung und Erziehung;
- Werke der Barmherzigkeit und Wohltätigkeit, Ausarbeitung gemeinsamer Sozialprogramme;
- Schutz, Wiederaufbau und Förderung des historischen und kulturellen Erbes, einschließlich der Sorge um die Erhaltung von Denkmälern von historischem und kulturellem Wert;
- Dialog mit den Organen der Staatsmacht in allen Sachbereichen und auf allen Ebenen in kirchen- sowie gesellschaftsrelevanten Fragen, einschließlich der Fragen im Zusammenhang mit der Ausarbeitung einschlägiger Gesetze, Verordnungen, Erlasse und Beschlüsse;
- Betreuung des Militärs sowie der Mitarbeiter der Organe der Rechtspflege, ihre geistig-sittliche Erziehung;
- präventive Maßnahmen gegen Rechtsverstöße sowie Betreuung inhaftierter Personen;
- Wissenschaft, einschließlich humanitärer Forschung;
- Gesundheitswesen;
- Kultur und schöpferische Tätigkeit;
- Tätigkeit der kirchlichen und weltlichen Massenmedien;
- Tätigkeit zur Bewahrung der Umwelt;
- wirtschaftliche Maßnahmen zum Wohle von Kirche, Staat und Gesellschaft;
- Förderung der Institution der Familie sowie der Mutterschaft und der
- Kindheit;
- Widerstand gegen die Tätigkeit pseudoreligiöser Strukturen, die die Integrität der Person und der Gesellschaft bedrohen.
Die Zusammenarbeit zwischen dem Staat und der Kirche ist gleichfalls in weiteren Bereichen möglich, sofern diese der Erfüllung von den oben aufgezählten Gebieten zugehörigen Aufgaben dient.
Gleichwohl gibt es Gebiete, in denen die Geistlichen und die kanonischen kirchlichen Organe gehalten sind, dem Staat ihre Mitarbeit zu verweigern. Solche sind:
- politischer Kampf, Wahlkampfwerbung, Kampagnen zur Unterstützung politischer Parteien, gesellschaftlicher sowie politischer Führungspersönlichkeiten;
- führen von Bürgerkriegen wie eines aggressiven äußeren Krieges;
- unmittelbare Teilnahme an geheimdienstlich-aufklärerischer oder ähnlich gearteter Tätigkeit, die nach staatlichem Recht Geheimsache ist und die nach staatlichem Recht weder in der Beichte noch gegenüber der kirchlichen Leitung geäußert werden dürfte.
- Der traditionelle Bereich der gesellschaftlichen Mühewaltung der Orthodoxen Kirche besteht im Eintreten für die Nöte des Volkes, für die Rechte und Sorgen einzelner Bürger oder gesellschaftlicher Gruppen. Ein solches Eintreten ist Pflicht der Kirche, der sie durch mündliche oder schriftliche Intervention bei der Staatsgewalt in den einzelnen Ressorts bzw. auf verschiedenen Ebenen seitens der entsprechenden kirchlichen Instanzen nachkommt.
III.9. Im heutigen Staat ist die Macht in der Regel in gesetzgebende, ausführende sowie rechtsprechende Gewalt aufgeteilt; darüber hinaus gibt es verschiedene Ebenen der Gewalt: nationalstaatliche, regionale und lokale. Daraus ergeben sich die spezifischen Beziehungen der Kirche zu den Gewalten in den einzelnen Ressorts bzw. auf den verschiedenen Ebenen.
Die Beziehungen zur legislativen Gewalt vollziehen sich im Dialog zwischen der Kirche und dem Gesetzgeber hinsichtlich solcher Fragen, die die Vervollkommnung des staatlichen und lokalen Rechts betreffen, soweit diese im Zusammenhang stehen mit dem Leben der Kirche, der kirchlich-staatlichen Zusammenarbeit und mit einem Gegenstand kirchlicher Sorge bezüglich des öffentlichen Lebens. Dieser Dialog betrifft ebenfalls Beschlüsse und Verfügungen der gesetzgebenden Gewalt, auch wenn letztere keinen unmittelbaren Bezug zur Gesetzgebung aufweisen.
In den Beziehungen zur exekutiven Gewalt ist die Kirche verpflichtet, einen Dialog über Fragen zu führen, die die Beschlußfassung bezüglich des Lebens der Kirche, der kirchlich-staatlichen Zusammenarbeit und der Bereiche der öffentlichen Betätigung der Kirche betreffen, wozu auf der einschlägigen Ebene Kontakte zu den zentralen und örtlichen Organen der ausführenden Gewalt unterhalten werden, einschließlich der Organe, in deren Zuständigkeitsbereich die Lösung praktischer Fragen aus dem Leben und der Tätigkeit der religiösen Vereinigungen sowie die Sorge für die Einhaltung der Gesetze durch letztere fallen (Organe der Rechtsprechung, der Staatsanwaltschaft, der inneren Angelegenheiten u.a.).
Die Beziehungen zwischen der Kirche und der judikativen Gewalt auf den einzelnen Ebenen beschränken sich auf die Vertretung der kirchlichen Interessen vor Gericht in Fällen, die dies erforderlich machen. Die Kirche mischt sich nicht unmittelbar in die Umsetzung der Funktionen und Befugnisse der rechtsprechenden Gewalt ein. Die Interessen der Kirche, ausgenommen Fälle äußerster Not, werden im Gericht durch Laien vertreten, die dazu durch die Kirchenleitung mit Vollmachten auf der entsprechenden Ebene ausgestattet sind (Konzil von Chalkedon 9). Innerkirchliche Auseinandersetzungen dürfen nicht vor weltliche Gerichte gebracht werden (Konzil von Antiochien 12). Über interkonfessionelle Konflikte sowie Konflikte mit Schismatikern, die Fragen der Glaubenslehre nicht berühren, darf auch ein weltliches Gericht entscheiden (Konzil von Karthago 59).
III.10. Die heiligen Kanones verbieten es den Geistlichen, an die Staatsmacht ohne Erlaubnis der Kirchenleitung heranzutreten. Die 11. Regel des Konzils von Sardika lautet: „Sollte ein Bischof oder Priester oder irgendein Angehöriger des Klerus es wagen, ohne Erlaubnis und Beglaubigungsschreiben des örtlichen Bischofs oder des Metropoliten den Herrscher aufzusuchen: derjenige soll verschmäht werden, er soll nicht nur aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, sondern ihm soll auch seine bisherige Würde entzogen werden (…). Sollte er unter dem Druck der Umstände gezwungen sein, zum Herrscher zu gehen, so soll das mit Wissen und Einverständnis des Metropoliten sowie der für dieses Gebiet zuständigen Bischöfe geschehen und durch deren Urkunden sanktioniert sein».
Die Kontakte und Zusammenarbeit der Kirche mit den höchsten Organen der Staatsmacht werden durch den Patriarchen und den Heiligen Synod unmittelbar oder durch schriftlich bevollmächtigte Vertreter wahrgenommen. Die Kontakte und Zusammenarbeit mit den regionalen Machtorganen werden durch die Diözesanbischöfe unmittelbar oder durch ebenfalls schriftlich bevollmächtigte Vertreter wahrgenommen. Die Kontakte und Zusammenarbeit mit den örtlichen Machtorganen und der Selbstverwaltung werden durch die Dekanate und Kirchengemeinden mit dem Segen der Erzbischöfe wahrgenommen. Die durch die Hohe Geistlichkeit (Kirchenleitung) zu Kontakten mit der Staatsgewalt Bevollmächtigten dürfen sowohl unbeschränkt als auch mit dem Ziel der Konsultationen zu bestimmten Problembereichen angestellt werden. Im Falle der Weiterleitung der zuvor auf örtlicher oder regionaler Ebene behandelten Frage an die höchsten Organe der Staatsgewalt setzt der Diözes-anbischof den Patriarchen und den Heiligen Synod darüber in Kenntnis und ersucht diese, zwecks der weiteren Behandlung der Frage in Kontakt mit dem Staat zu treten. Im Falle der Weiterleitung eines Gerichtsfalls von der örtlichen oder regionalen an die höchste Ebene setzt der Diözesanbischof den Patriarchen und den Heiligen Synod über den Verlauf der vorangegangenen Gerichtsverhandlungen schriftlich in Kenntnis. Die Vorsteher der kirchlichen Selbstverwaltungsbezirke sowie die Verwalter der Diözesen in den einzelnen Staaten sind von dem Patriarchen sowie dem Heiligen Synod speziell dazu gesegnet, regelmäßige Kontakte zu den höchsten Organen dieser Staaten zu unterhalten.
III.11. Um jedwede Verwirrung der Kompetenzen der kirchlichen und der staatlichen Gewalt zu vermeiden und um einer Verweltlichung der kirchlichen Gewalt vorzubeugen, ist den Geistlichen die Mitwirkung in Angelegenheiten der Staatsverwaltung kirchenrechtlich untersagt. Die 81. Apostolische Regel lautet: „Eine Beteiligung an den Angelegenheiten der Volksherrschaft kommt dem Bischof und dem Presbyter nicht zu, seine Aufgabe ist es vielmehr, sich um kirchliche Angelegenheiten zu kümmern.» Auch die 6. Apostolische Regel thematisiert dies, desgleichen die 10. Regel des Siebten Ökumenischen Konzils. In der gegenwärtigen Situation beziehen sich die hier aufgezählten Bestimmungen nicht nur auf Beteiligung an administrativer Befehlsgewalt, sondern gleichermaßen auf die Beteiligung an den Repräsentativorganen der Macht (vgl. V.2).
IV. Christliche Ethik und weltliches Recht
IV. 1. Gott ist die Vollkommenheit, deshalb ist auch die von Ihm geschaffene Welt vollkommen und harmonisch Leben heißt, die gottlichen Gesetze zu befolgen, wie denn Gott Selbst unendliches und erfülltes Leben ist Der Sundenfall der Ureltern verschaffte dem Bösen und der Sunde Einlaß m die Welt Doch zugleich blieb der gefallene Mensch frei, mit Gottes Hilfe den rechten Weg zu wählen So wird durch die Erfüllung der gottlichen Gebote das Leben bejaht, die Abkehr von ihnen fuhrt hingegen folgerichtig zu Verlust und Tod, ist sie doch nichts anderes als Abfall von Gott, also auch von Sem und Leben, das nur m Ihm sein kann „Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Gluck, den Tod und das Unglück vor Wenn du auf die Gebote des Herrn, deines Gottes, auf die ich dich heute verpflichte, hörst, indem du den Herrn, deinen Gott, liebst, auf seinen Wegen gehst und auf seine Gebote, Gesetze und Rechtsvorschriften achtest, dann wirst du leben (… ) Wenn du aber dem Herz abwendest und nicht hörst, wenn du dich verfuhren laßt ( ) Dann werdet ihr ausgetilgt werden, ihr werdet nicht lange m dem Land leben» (Dtn 30 15-18) In der irdischen Ordnung der Dinge folgt auf die Sunde nicht unmittelbar die Vergeltung, sondern es liegen viele Jahre und sogar Generationen dazwischen „Denn ich, der Herr, dem Gott, bin ein eifersuchtiger Gott Bei denen, die mir femd sind, verfolge ich die Schuld der Vater an den Söhnen und an der dritten und vierten Generation, bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld» (Dtn 59-10) Ein solcher zeitlicher Abstand zwischen dem Verbrechen und der Strafe laßt einerseits den Menschen seine Freiheit bewahren und fordert andererseits vernunftige und fromme Menschen dazu auf, die göttlichen Bestimmungen mit besonderer Aufmerksamkeit zu erforschen, um das Wahre vom Falschen, das Gesetzliche vom Ungesetzlichen unterscheiden zu lernen
Unter den ältesten Zeugnissen des geschriebenen Wortes finden sich zahlreiche Sammlungen von Lehrmeinungen und Gesetzesbestimmungen Zweifelsohne können sie zu dem noch früheren, vorschnftlichen Zeitalter der Menschheit gerechnet werden, seit dem die Forderung des göttlichen Gesetzes „ins Herz geschrieben» ist (Rom 2 15) Das Recht hat m der menschlichen Gesellschaft von alters her existiert Die ersten Gesetzesbestimmungen wurden dem Menschen bereits im Paradies gegeben (Gen 2 16-17) Nach dem Sundenfall — dem Verstoß gegen das göttliche Gesetz durch den Menschen — wurde das Recht zur Grenze, bei deren Überschreiten die Zerstörung sowohl der Persönlichkeit als auch der menschlichen Gemeinschaft droht
IV.2. Das Recht ist dazu bestimmt, eine Erscheinungsform des göttlichen Schöpfungsgesetzes im sozialen und im politischen Bereich zu sein. Zugleich ist jedes durch die menschliche Gemeinschaft hervorgebrachte Rechtssystem — als Ergebnis einer historischen Entwicklung — durch eine gewisse Beschränktheit und Unvollkommenheit gekennzeichnet. Das Recht ist ein eigenständiger Bereich, der sich von dem ihm benachbarten Bereich der Ethik unterscheidet: es regelt nicht den inneren Zustand des menschlichen Herzens, da einzig Gott Herr unserer Herzen sein kann.
Es sind jedoch das Verhalten und die Handlungen des Menschen, die Gegenstand der rechtlichen Reglementierung sind, der die Gesetzgebung zugrunde liegt. Das Recht sieht außerdem Zwangsmaßnahmen zur Einhaltung der Gesetze vor. Die gesetzlichen Sanktionen zur Ahndung von Rechtsverstößen machen das Gesetz zu einer verläßlichen Klammer für den Zusammenhalt der Gesellschaft, solange nicht, wie es oft in der Geschichte der Fall gewesen ist, der Sturz des gesamten Systems des geltenden Rechts betrieben wird. Jedoch ist das Recht für den Bestand jeder menschlichen Gemeinschaft derart unentbehrlich, daß an Stelle der außer Kraft gesetzten Rechtsordnung stets ein neues System der Gesetzgebung begründet wird.
Das Recht enthält ein Mindestmaß an für alle Mitglieder der Gesellschaft verbindlichen sittlichen Normen. Aufgabe des weltlichen Gesetzes ist es nicht. die unter der Macht des Bösen stehende Welt in das Reich Gottes zu verwandeln, sondern zu verhindern, daß sie zur Hölle wird. Das Kernprinzip des Rechts lautet: „Was du nicht willst, das dir zugefügt werde, das füge auch keinem anderen zu.» Wenn jemand gegen seinen Nächsten eine ungerechte Tat begangen hat, so kann der Schaden, der dadurch der Ganzheit der göttlichen Weltordnung entsteht, entweder durch das Leiden des Verbrechers wiedergutgemacht werden oder durch Begnadigung, sofern die moralischen Folgen der sündhaften Tat von dem den Verbrecher Begnadigenden (Staatsoberhaupt, Geistlicher, Gemeinde u.a.) getragen werden. Das Leiden heilt die von der Sünde angegriffene Seele. Das freiwillige Leiden des Unschuldigen für die Sünden des Verbrechers stellt die höchste Form der Sühne dar, deren vollkommenste der Opfertod des Herrn Jesus ist, der die Sünde der Welt auf sich nahm (Joh 1.29).
IV.3. Das Verständnis dessen, wo die „Schmerzgrenze», die den einen vom anderen trennt, verläuft, unterschied sich je nach Gesellschaft und Epoche. Je tiefer die Wurzeln des religiösen Bewußtseins in der menschlichen Gemeinschaft sind, desto stärker ist auch das Bewußtsein für die Einheit und Ganzheitlichkeit der Welt. Die Menschen in der religiös homogenen Gesellschaft werden aus zwei Blickwinkeln betrachtet: sowohl als einzelne, vor Gott stehende oder von Ihm abtrünnige und durch keinen anderen Menschen zu verurteilende Persönlichkeiten (Rom 14.4), sodann auch als Glieder des einheitlichen gesellschaftlichen Körpers, in welchem die Krankheit eines Organs zum Siechtum und zum Tod des ganzen Organismus führt. Im letzteren Fall kann und muß sich der einzelne sowohl vor der Gemeinde als auch vor der Welt verantworten, sofern die Handlungen von dem einen Auswirkungen auf die vielen haben. Die Suche eines Gerechten nach dem Weltgeist des Friedens führt, nach den Worten des hl. Gerechten Serafim Sarovskij, zur Erlösung von Tausenden von Menschen, während das Begehen einer Sünde durch einen Übeltäter das Unheil vieler nach sich zieht.
Diese Haltung hinsichtlich der sündhaften und verbrecherischen Taten hat [seine feste Grundlage in der Heiligen Schrift und den Überlieferungen der Kirche. i„Eine Stadt kommt hoch durch den Segen der Redlichen, durch den Mund der JFrevler wird sie niedergerissen» (Spr 11.11). Der hl. Hierarch Basilius der Große i lehrte die an Hunger und Durst leidenden Bewohner von Cäsarea in Kappadokien: „Wegen einiger weniger wird Unheil über das ganze Volk kommen, und wegen der Freveltat von einem werden alle ihre Früchte zu schmecken bekommen. Ahab beging Blasphemie, woraufhin das ganze Heer zerschlagen wurde; bereits Simri ;betrieb Ehebruch mit der Midianiterin, und Israel büßte die Strafe.» Über das gleiche schreibt der hl. Hierarch Cyprianus von Moskau: „Wißt ihr denn nicht, daß jdie menschliche Sünde auf den Fürsten und die fürstliche Sünde auf den Menschen zurückschlägt?»
Aus diesem Grund regelten die alten Gesetzbücher auch jene Seiten des it Lebens, die heute außerhalb des verrechtlichten Bereichs liegen. So stand nach jden Rechtsbestimmungen des Pentateuchs auf Ehebruch die Todesstrafe (Lev 20.10), während er gegenwärtig in der Mehrheit der Staaten nicht die Merkmale eines Straftatbestands erfüllt, um ein Beispiel zu nennen. Beim Schwinden des ganzheitlichen Weltbildes reduziert sich der rechtlich geregelte Bereich lediglich auf die Fälle offensichtlichen Schadens, wobei der Begriff von letzterem immer enger gefaßt wird, parallel zur Zerstörung der öffentlichen Sittlichkeit und der Säkularisierung des Bewußtseins. So wird beispielsweise die Zauberei, die in den antiken Gemeinschaften als schweres Verbrechen galt, vom heutigen Recht als dn Wahndelikt und folglich nicht als strafwürdig erachtet.
Die gefallene Natur des Menschen, die sein Bewußtsein verdorben hat, macht es ihm unmöglich, das göttliche Gesetz in seiner ganzer Fülle anzunehmen. In den verschiedenen Epochen vernahm das Volk das Gesetz lediglich teilweise. Das biblische Wort des Erlösers über die Scheidung bietet eine anschauliche Vorstellung davon. Moses erlaubte die Auflösung von Ehen zwischen Angehörigen des gleichen Stammes, weil sie „hartherzig» waren; das war „am Anfang» nicht so, denn in der Ehe wird der Mann „ein Fleisch» mit der Frau und so ist die Ehe unauflöslich (Mt 19.3-8).
In solchen Fällen allerdings, in denen das menschliche Gesetz die absolute göttliche Norm von Grund auf verwirft und diese durch ihr Gegenteil ersetzt, hört es auf, ein Gesetz zu sein und wird zur Gesetzlosigkeit, ungeachtet der Wahl seines jeweiligen rechtlichen Gewandes. So steht z.B. in den Zehn Geboten deutlich geschrieben: „Ehre deinen Vater und deine Mutter» (Ex 20.12). Jede diesem Gebot entgegenstehende weltliche Norm macht nicht denjenigen zum Verbrecher, der gegen sie verstößt, sondern den Gesetzgeber selbst. Mit anderen Worten: Das menschliche Gesetz kann nie die Fülle des göttlichen Gesetzes enthalten; um jedoch seine Gültigkeit zu bewahren, muß es mit den von Gott aufgestellten Prinzipien übereinstimmen und darf diese nicht übertreten.
IV.4. Historisch gesehen entstammen das religiöse und das weltliche Recht der gleichen Quelle, beide waren lange Zeit lediglich zwei Seiten des einheitlichen Gebiets des Rechts. Dieses Rechtsverständnis charakterisiert auch das Alte Testament.
Der Herr Jesus Christus, all die Ihm Treuen zum Eintritt in das Reich rufend, das nicht von dieser Welt ist, trennte die Kirche als Seinen Leib von der unter der Macht des Bösen stehenden Welt (Lk 12.51-52). Im Christentum ist das innere Gesetz der Kirche frei von dem geistlich gefallenen Zustand der Welt und diesem sogar entgegengesetzt (Mt 5.21-47). Die Gegenüberstellung bedeutet keineswegs die Mißachtung, sondern die Erfüllung des Gesetzes der Vollkommenheit der göttlichen Wahrheit, von der sich die Menschheit im Sündenfall abwandte. Durch den Vergleich der alttestamentlichen Normen mit der Norm der Frohen Botschaft ruft der Herr in der Bergpredigt das Volk auf, die volle Übereinstimmung des Lebens mit dem absoluten göttlichen Gesetz zu suchen, d.h. zur Vergöttlichung: „Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist» (Mt 5.48).
IV.5. In der Kirche, die durch den Herrn Jesus gegründet wurde, gilt eigenes Recht, welches sich aus der Göttlichen Offenbarung herleitet. Dies ist das kanonische Recht. Während die übrigen religiösen Bestimmungen der von Gott abgefallenen Menschheit gegeben sind und ihrer Natur nach ein Teil der bürgerlichen Gesetzgebung sein können, so ist das christliche Recht grundsätzlich übersozial. Es kann nicht unmittelbar in die bürgerliche Gesetzgebung aufgenommen werden, obwohl es innerhalb christlicher Gesellschaften — als deren geistige Grundlage -eine wohltuende Wirkung ausübt.
Die christlichen Staaten wandten gewöhnlich das modifizierte Recht aus der heidnischen Zeit an (beispielsweise das römische Recht des Corpus Justinianus), insofern auch darin Normen enthalten waren, die mit der göttlichen Wahrheit übereinstimmten. Der Versuch jedoch, ein ausschließlich auf dem Evangelium beruhendes bürgerliches Recht, Straf- oder Staatsrecht zu begründen, kann kaum gelingen, da ohne die vollkommene Verkirchlichung des Lebens, d.h. ohne den endgültigen Sieg über die Sünde, das Recht der Kirche nicht zum Recht der Welt werden kann. Ein solcher Sieg jedoch ist nur in eschatologischer Perspektive möglich.
Im übrigen ist der erfolgreiche Versuch des hl. Kaisers Justinianos, das vom jheidnischen Rom ererbte Rechtssystem zu christianisieren, nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß sich der Gesetzgeber bei der Schaffung des Corpus der iGrenze zwischen der Ordnung dieser Welt einerseits, die auch in der Epoche des Christentums von Sündenfall und Verdorbenheit gezeichnet ist, und der Kirche als dem gnadenreichen Leib Christi andererseits, völlig gewahr war, obwohl die Glieder dieses Leibes und die Bürger des christlichen Staates prinzipiell die gleichen Personen sind. Der Corpus Justinianus bestimmte jahrhundertelang das byzantinische Rechtssystem und übte einen nachhaltigen Einfluß auf die Entwicklung des Rechts in Rußland wie auch auf westeuropäische Länder im .Mittelalter und in der Neuzeit aus.
IV.6. Im gegenwärtigen weltlichen Rechtsdenken ist die Vorstellung der unveräußerlichen Menschenrechte zu einem dominierenden Prinzip geworden. Die Idee solcher Rechte entstammt der biblischen Lehre vom Menschen als Ebenbild und Gleichnis Gottes, als einem ontologisch freien Geschöpf. „Betrachte die Menschen um dich», schreibt der hl. Gerechte Antonius von Ägypten, „und sei dir bewußt, daß die Fürsten und Herren Macht nur über deinen Körper und nicht über deine Seele haben, und behalte das immer im Gedächtnis. Deshalb sollst du nicht auf diese hören, wenn sie dir etwa zu Mord oder zu anderen unangemessenen, ungerechten und der Seele abträglichen Taten raten, selbst wenn deinem Körper deswegen Leid zugefügt würde. Gott hat die Seele frei und selbstbestimmt geschaffen, und sie hat die Freiheit, nach eigenem Willen Gutes oder Böses zu tun.»
Die christliche sozialstaatliche Ethik forderte, dem Menschen einen Autonomiebereich zu bewahren, in welchem sein Gewissen „autokratischer» Herrscher ist, da Heil oder Untergang, der Weg zu Christus hin oder von Christus weg letzten Endes von der freien Willensäußerung abhängt. Das Recht auf Glauben, Leben und Familie bedeutet eine Gewähr für die innigsten Grundlagen der menschlichen Freiheit vor der Willkür fremder Mächte. Diese inneren Rechte werden durch andere, äußere, vervollständigt und in ihrer Geltung bestätigt, wie beispielsweise durch das Recht auf Freizügigkeit, Informationsfreiheit, Eigentum, dessen Besitz- und Verfügungsrecht.
Gott hütet die Freiheit des Menschen, ohne jemals dessen Willen zu bedrängen. Im Gegensatz dazu strebt der Satan danach, vom Willen des Menschen Besitz zu ergreifen und ihn zu versklaven. Wenn sich das Recht nach der göttlichen Wahrheit richtet, die uns durch unseren Gott Jesus Christus offenbart wurde, so steht es auch auf der Seite der menschlichen Freiheit. „Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist auch Freiheit» (2 Kor 3.17); deshalb werden hier auch die unveräußerlichen Rechte der Person geschützt. Jene Traditionen, die mit dem Prinzip der Freiheit Christi nicht vertraut sind, streben bisweilen danach, das Gewissen des Menschen dem äußeren Willen des Führers oder des Kollektivs zu unterwerfen.
IV.7. Im Zuge der Säkularisierung wandelten sich die erhabenen Prinzipien der unveräußerlichen Menschenrechte zum Begriff der Rechte des Individuums außerhalb seiner Beziehung zu Gott. Hierbei entwickelte sich die Freiheit der Person zur Verteidigung des Eigenwillens fort (solange anderen Individuen kein Nachteil davon entsteht) sowie zur Forderung an den Staat nach der Sicherstellung eines gewissen materiellen Existenzminimums zugunsten der Person und der Familie. Im System des gegenwärtigen weltlichen, humanistischen Menschen-rechtsverständnisses wird der Mensch nicht als Ebenbild Gottes, sondern als sich selbst genügendes und autarkes Subjekt aufgefaßt. Außerhalb Gottes existiert jedoch nur der gefallene Mensch, der dem von allen Christen erstrebten Vollkommenheitsideal, das in Christus erschien („Ecce homo!»), weit entfernt ist.
Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß im christlichen Rechtsdenken die Idee der Freiheit und der Menschenrechte unauflöslich mit der Idee des Dienstes verbunden ist. Der Christ bedient sich seiner Rechte vornehmlich dazu, um in bestmöglicher Art und Weise seiner erhabenen Berufung, nämlich „Ebenbild Gottes» zu sein, gerecht zu werden, seiner Pflicht vor Gott und der Kirche, vor den anderen Menschen, dem Staat, dem Volk und sonstigen menschlichen Gemeinschaften nachzukommen.
Im Zuge der neuzeitlichen Säkularisierung erlangte die Naturrechtslehre, die in ihren Grundprämissen der Gefallenheit der menschlichen Natur nicht Rechnung trägt, maßgeblichen Einfluß. Gleichwohl hat sich diese Theorie nicht vollständig von der christlichen Tradition gelöst, geht sie doch von der Überzeugung aus, daß die Begriffe von Gut und Böse der menschlichen Natur inhärent sind und aus diesem Grund sich das Recht aus dem Leben selbst entwickelt, indem es seinen Ausgang vom Gewissen nimmt („kategorischer moralischer Imperativ»). Bis in das 19. Jahrhundert hinein war diese Theorie in der europäischen Gesellschaft vorherrschend. Ihre praktischen Konsequenzen waren zum einen das Prinzip der historischen Kontinuität auf dem Gebiet des Rechts (das Recht darf, wie das Gewissen, nicht aufgehoben werden; es kann nur vervollkommnet und auf gesetzlich vorgeschriebener Weise den neuen Bedingungen und Ereignissen angeglichen werden), zum zweiten das Präzedenzprinzip (das Gericht kann unter Bezugnahme auf das Gewissen und die überkommenen Rechtsbräuche einen richtigen, d.h. mit der Gerechtigkeit Gottes übereinstimmenden Beschluß fassen).
Im heutigen Rechtsverständnis überwiegen Ansichten, die eine apologetische Haltung gegenüber dem geltenden positiven Recht einnehmen. Demzufolge ist das Recht eine menschliche Erfindung, eine Konstruktion, die von der Gesellschaft mit Blick auf ihren eigenen Nutzen sowie die Bewältigung ihrer selbstgestellten Aufgaben etabliert worden ist. Dementsprechend sind sämtliche Änderungen des Rechts — sofern gesellschaftlich sanktioniert — legitim. Über das gesetzte Recht hinaus gilt keine absolute normative Grundlage. Nach Maßgabe dieser Ansicht ist eine Revolution legitim, die die Gesetze der „Alten Welt» mittels Gewaltanwendung für nichtig erklärt, desgleichen die totale Negation der moralischen Normen, sofern dies durch die Gesellschaft gebilligt wird.
Wenn also in der heutigen Gesellschaft Abtreibung nicht als Mord betrachtet wird, gibt es auch nicht den juristischen Tatbestand, der durch eine solche Handlung erfüllt werden könnte. Die Apologeten des positiven Rechts behaupten, daß die Gesellschaft aus eigener Kraft zur Begründung von Normen fähig ist, halten entsprechend umgekehrt bereits das Vorhandensein eines jeden geltenden jGesetzes für einen ausreichenden Grund seiner Legitimität.
IV.8. Die Rechtsordnung jedes Staates ist ein Spezialfall des allgemein gültigen Weltgesetzes und jedem einzelnen Volk eigen. Die grundlegenden Prinzipien der Beziehungen zwischen den Menschen, zwischen der Staatsgewalt und der Gesellschaft sowie zwischen den einzelnen Institutionen sind im nationalen Recht festgelegt, welches durch das Volk in seiner geschichtlichen Entwicklung hervorgebracht wird. Das nationale Recht ist unvollkommen, weil jedes Volk unvollkommen und sündig ist. Dennoch schafft es die Rahmenbedingungen für den Zusammenhalt des Volkes, wenn es die absoluten Wahrheiten Gottes erläutert und diese an das konkrete historische und nationale Sein heranführt.
So war die Rechtsordnung Rußlands im Laufe des Jahrtausends einem beständigen Wandel und einer Ausdifferenzierung parallel zur Entwicklung und Steigerung der gesellschaftlichen Komplexität unterworfen. In das slawische Gewohnheitsrecht, in welchem sich im 10. Jahrhundert noch teilweise alte gemeinschaftliche arische Formen fanden, flössen infolge der Christianisierung Bestandteile der byzantinischen Gesetzgebung ein, die durch den Corpus Justinianus im klassischen römischen Recht enthalten waren, ebenso wie Kanones des Kirchenrechts, die zur damaligen Zeit mit dem bürgerlichen Recht inhaltlich identisch waren. Seit dem 17. Jahrhundert erfolgte eine breite Rezeption der Normen und juristischen Logik der westeuropäischen Gesetzgebung durch das russische Recht, die organisch genug vor sich ging, da die für Europa bestimmen de römische Rechtstradition seitens Rußlands zusammen mit dem Christentum — bereits im 10./11. Jahrhundert über Konstantinopel übernommen worden war. Die! alte „Russische Pravda», die fürstlichen Erlasse und Satzungsurkunden, die! Gerichtsakte und Fürstenspiegel, der Stoglav und das Sobornoe Ulozenie von? 1649, die Artikel und Erlasse Peters des Großen, die gesetzgeberischen Akte vonf Katharina der Großen und Alexander L, die Reformen Alexanders II. und diei Grundgesetze von 1906 stellten insgesamt ein einheitliches juristisches Gewebe», des stetig wachsenden Volksorganismus dar. Einige Normen wurden alt undj büßten ihre Gültigkeit ein, andere traten an deren Stelle. Einzelne juristische! Neuerungen erwiesen sich als ungeeignet, als dem Aufbau des Volkslebens nichtj entsprechend, und wurden nicht mehr angewandt. Der Strom des Flusses der russischen nationalen Rechtsordnung, dessen Quellen sich in der fernsten Geschichte verlieren, wurde 1917 unterbrochen. Am 22. November jenes Jahres setzte der Rat der Volkskommissare im Geiste des Rechtspositivismus die gesamte russische Rechtsordnung außer Kraft. Seit dem Zusammenbruch der sowjetischen Staatlichkeit in den Staaten der GUS und des Baltikum Anfang der 90er Jahre befindet sich das Rechtssystem wieder im Aufbau. Die ihm zugrundeliegenden Ideen entstammen dem modernen säkularisierten Rechtsdenken.
IV.9. Unter Wahrung ihres Autonomierechts, welches auf den heiligen Kanones beruht und über die Grenzen des eigentlichen kirchlichen Lebens nicht hinausgeht, kann die Kirche Christi unter den verschiedensten Rechtssystemen bestehen, denen sie die gebührende Achtung erweist. Die Kirche ruft unveränderlich ihre Kinder dazu auf, gesetzestreue Bürger des irdischen Vaterlands zu sein. Gleichzeitig betont sie stets die unaufhebbare Grenze, bis zu der der Gesetzesgehorsam ihrer treuen Kinder geht. In allem, was ausschließlich die irdische Ordnung der Dinge betrifft, soll der orthodoxe Christ den Gesetzen Gehorsam leisten, unabhängig von dem Grad der Vollkommenheit letzterer. Wenn die Erfüllung des Gesetzes aber eine Gefahr für das ewige Heil in sich birgt, den Abfall vom Glauben oder das Begehen einer zweifelsfreien Sünde gegenüber Gott und dem Nächsten impliziert, ist der Christ zum aufopfernden Bekenntnis um der Wahrheit Gottes und um des Heils seiner Seele für das ewige Leben willen aufgefordert. Seine Pflicht ist es, offen und im gesetzlichen Rahmen gegen eine offensichtliche Mißachtung der Gebote und Befehle Gottes durch die Gesellschaft oder den Staat aufzutreten, und sollte dies unmöglich oder unwirksam sein, so ist er zum zivilen Ungehorsam verpflichtet (vgl. III.5).
V. Kirche und Politik
In den gegenwärtigen Staaten nehmen die Bürger am Regierungsprozeß ihres Staates auf dem Weg von Wahlen teil. Die meisten von ihnen sind Mitglieder von politischen Parteien, Bewegungen, Bündnissen, Blöcken und weiteren ähnlichen Organisationen, die auf verschiedenen politischen Doktrinen und Anschauungen basieren. Zu den Zielen dieser Organisationen, die das Leben der Gesellschaft in Übereinstimmung mit den politischen Überzeugungen ihrer Mitglieder zu organisieren suchen, gehören auch die Übernahme und Erhaltung sowie die Reformierung der Macht im Staate. Die Vollmachten nutzend, die ihnen kraft der Willensäußerung der Bürger in Wahlen erteilt worden sind, können sich die politischen Gruppierungen an der Tätigkeit der Organe der gesetzgebenden sowie der ausführenden Gewalt beteiligen.
Die Existenz verschiedener, unter Umständen einander widersprechender politischer Ansichten sowie einander entgegengesetzter Interessen erzeugt einen politischen Kampf, der sowohl mit gesetzlichen und sittlich begründeten Methoden geführt wird als auch bisweilen mit Methoden, die den Normen des Staatsrechts, der christlichen und der natürlichen Moral zuwiderlaufen.
V.2. In Befolgung des göttlichen Befehls hat die Kirche die Aufgabe, für die Einheit ihrer Kinder, für Frieden und Harmonie in der Gesellschaft sowie für die Einbeziehung aller ihrer Mitglieder in die gemeinsame schöpferische Arbeit Sorge zu tragen. Die Kirche ist berufen, den Frieden zu predigen und ihn in gemeinschaftlicher Bemühung mit der Gesellschaft, die für sie eine äußere ist, zu erwirken: „Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden» (Rom 12.18); „Strebt voll Eifer nach Frieden mit allen» (Hebr 12.14). Von noch größerer Wichtigkeit für sie ist jedoch die innere Eintracht im Glauben und in der Liebe: „Ich ermahne euch aber, Brüder, im Namen Jesu Christi, unseres Herrn: Seid alle einmütig (…); seid ganz eines Sinnes und einer Meinung» (1 Kor 1.10). Für die Kirche verkörpert ihre Vollkommenheit als sakramentaler Leib Christi (Eph 1.23), von dessen unversehrtem Dasein das ewige Heil des Menschen abhängt, den allerhöchsten Wert. Der hl. Ignatius von Antiochien schreibt, den Gliedern der Kirche Christi zugewandt: „Seid alle wie ein Tempel Gottes, wie eine Opfergabe, wie der eine Jesus.»
Im Angesicht der politischen Meinungsverschiedenheiten, Widersprüche und Kämpfe predigt die Kirche Frieden und Zusammenarbeit unter den Menschen, die unterschiedlichen politischen Ansichten anhängen. Des weiteren duldet sie auch verschiedene politische Überzeugungen in der Mitte des Episkopats, des Klerus sowie der Laien, mit Ausnahme solcher, die offensichtlich zu Taten führen, die der orthodoxen Glaubenslehre und den moralischen Normen der kirchlichen Überlieferung widersprechen.
Untersagt ist die Teilnahme der Kirchenleitung und der Geistlichen, folglich auch der ganzen Kirche in ihrer Vollkommenheit, an der Tätigkeit politischer Organisationen, an Wahlaktionen wie etwa öffentlicher Unterstützung an Wahlen beteiligter politischer Gruppierungen oder einzelner Kandidaten, an Wahlkampfwerbung usw. Die Nominierung von Geistlichen zu den Wahlen jeglicher Repräsentativorgane der Macht auf allen Ebenen ist unzulässig. Gleichzeitig soll den Hierarchen, Geistlichen und Laien — gleich den anderen Bürgern — die Teilnahme an den Willensäußerungen des Volkes auf dem Weg der Stimmabgabe freistehen.
In der Geschichte der Kirche hat es nicht wenige Fälle von Unterstützung verschiedener politischer Doktrinen, Anschauungen, Organisationen und Funktionäre seitens der gesamten Kirche gegeben. In einer Reihe von Fällen war diese Unterstützung eine Folge der Notwendigkeit, die vitalen Interessen der Kirche unter den extremen Bedingungen antireligiöser Verfolgungen sowie zerstörerischer und restriktiver Handlungen einer nicht-orthodoxen oder nicht-christlichen Macht zu wahren. In anderen Fällen war eine ähnliche Unterstützung die Folge von Druck seitens des Staates oder der politischen Strukturen und führte gewöhnlich zu Abspaltungen und Widersprüchen innerhalb der Kirche, zur Abkehr von Menschen weniger festen Glaubens von ihr.
Im 20. Jahrhundert hatten einige Geistliche und Hierarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche zusätzlich auch Ämter in repräsentativen Organen der Staatsmacht, insbesondere der Staatsduma des Russischen Reichs, dem Obersten Sowjet der UdSSR und der Russischen Föderation sowie einer Reihe örtlicher Sowjets und . gesetzgebender Versammlungen inne. In einigen Fällen erwies sich die Beteiligung der Geistlichen an der Tätigkeit der Staatsorgane für die Kirche und die Gesellschaft als nutzbringend; häufig jedoch führte diese Teilnahme zu Verwirrung und Abspaltung. Dazu kam es dann, wenn Geistliche nur in einigen bestimmten Parlamentsfraktionen Mitglied waren und insbesondere, wenn sie für Wahlämter ohne den Segen der Kirche kandidierten. Die Praxis in ihrer Gesamtheit hat gezeigt, daß die Beteiligung von Geistlichen an der Tätigkeit der Staatsorgane prinzipiell unmöglich ist; denn sie können nicht die Verantwortung für das Zustandekommen von Beschlüssen übernehmen, die den Interessen von lediglich einem Teil der Gesellschaft Rechnung tragen und die Interessen des anderen Teils verletzen, da dies die seelsorgliche und missionarische Tätigkeit des Geistlichen vor unüberwindbare Schwierigkeiten stellen würde. Der Geistliche ist den Worten des Apostels Paulus zufolge berufen, „allen (…) alles» zu sein, „um auf jeden Fall einige zu retten» (1 Kor 9.22). Gleichzeitig hat die Geschichte erwiesen, daß bei der Entscheidung über Beteiligung oder Nichtbeteiligung Geistlicher an politischen Aktivitäten die Besonderheiten der konkreten historischen Epoche, der innere Zustand des kirchlichen Organismus sowie seine Stellung im Staat maßgebend waren und sind. Unter kanonischen Gesichtspunkten jedoch ist die Frage, ob ein Geistlicher, der einen Staatsposten bekleidet, diesen überdies berufsmäßig ausüben dürfe, eindeutig abschlägig zu bescheiden.
Am 8. Oktober 1919 rief der Patriarch Tichon die Geistlichkeit der Russischen! Kirche auf, sich am politischen Kampf nicht zu beteiligen, und wies insbesondere! darauf hin, daß es den Dienern der Kirche obliegt, „in Einklang mit ihrer Priester würde außerhalb und jenseits jeglicher politischer Interessen zu stehen, der kano nischen Regeln der Heiligen Kirche zu gedenken, unter deren Bezugnahme die Kirche ihren Dienern die Teilnahme am politischen Leben des Landes untersagt, des weiteren in keinen politischen Parteien Mitglied zu sein, noch weniger die gottesdienstlichen Bräuche und Rituale als Mittel in politischen Demonstrationen einzusetzen».
Am Vorabend der Parlamentswahlen in der UdSSR verfügte der Heilige Synod am 27.12.1988, daß „die Vertreter unserer Kirche — sofern nominiert und zu Volksdeputierten gewählt — für diese Tätigkeit gesegnet sein sollen, wobei wir hiermit unsere Hoffnung zum Ausdruck bringen, daß dies dem Wohl der Gläubigen sowie unserer ganzen Gesellschaft dienen werde». Zusätzlich zur Wahl zu Volksdeputierten der UdSSR erhielten eine Reihe von Bischöfen und Geistlichen Abgeordnetenmandate in den republikanischen regionalen und örtlichen Sowjets. Die neuen Bedingungen des politischen Lebens veranlaßten das Bischöfliche Konzil der Russisch-Orthodoxen Kirche im Oktober 1989, der Diskussion zweier Fragen seine i besondere Aufmerksamkeit zu widmen: „Zum einen, inwieweit darf die Kirche Verantwortung für politische Entscheidungen übernehmen, ohne dadurch Zweifel über ihre seelsorgliche Autorität aufkommen zu lassen, zum anderen, inwieweit darf sie auf die Mitsprache bei der Gesetzgebung und auf die Möglichkeit, einen moralischen Einfluß auf den politischen Prozeß auszuüben, verzichten, wenn die entsprechende Beschlußfassung für das Schicksal des Landes von erheblicher Bedeutung ist.» In der Folge erkannte das Bischöfliche Konzil die Bestimmung des Heiligen Synods vom 27.12.1988 als lediglich für die bereits abgehaltenen Wahlen geltend an. Für die Zukunft wurde eine Ordnung beschlossen, nach der über die Zweckmäßigkeit der Beteiligung von Vertretern der Geistlichkeit an Wahlkämpfen in jedem einzelnen Fall von der Kirchenleitung im voraus entschieden werden sollte (vom Heiligen Synod bezüglich des Episkopats, von den amtieren- j den Bischöfen bezüglich des nachgeordneten Klerus). Dessenungeachtet nahmen l einige Vertreter der Geistlichkeit, die den erforderlichen Segen nicht erhalten hatten, an den Wahlen teil. Am 20.03.1990 verkündete der Heilige Synod mit Bedauern, daß „die Russisch-Orthodoxe Kirche die moralische und religiöse Verantwortung für die Teilnahme dieser Personen an den Wahlen zu den Organen der Staatsmacht von sich weist». Die Anwendung der fälligen Sanktionen ange-jsichts des Disziplinarverstoßes stellte der Synod aus Gründen der Oikonomie zurück, „indem er davon ausging, daß dieses Verhalten auf deren Gewissen lastet». In Anbetracht der Gründung eines Berufsparlaments in Rußland faßte der Heilige Synod auf einer erweiterten Sitzung vom 08.10.1993 den Beschluß, den Geist-tlichen die Weisung zu erteilen, sich bei den Parlamentswahlen in Rußland der JKandidatur um ein Abgeordnetenmandat zu enthalten. Damit einhergehend wurde verfügt, daß Verstöße dagegen mit dem Entzug des Priesteramtes «geahndet werden. Das Bischöfliche Konzil der Russisch-Orthodoxen Kirche von 1994 begrüßte den oben genannten Beschluß des Heiligen Synods als „zeitge-jrecht und weise» und dehnte seine Geltungskraft auf die „zukünftige Teilnahme fder Geistlichen der Russisch-Orthodoxen Kirche an den Wahlen aller repräsentativen Staatsorgane der GUS-Staaten und des Baltikums sowohl auf gesamtstaatlicher als auch auf örtlicher Ebene» aus.
Das gleiche Bischöfliche Konzil stellte — als eine den heiligen Kanones getreue Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart — zu diesem Thema eine Reihe ‘höchst wichtiger Regeln auf. Einer der Beschlüsse des Konzils besagt: „Es wird Ibestätigt, daß es aus der Sicht der Vollkommenheit der Kirche als unmöglich jerscheint, gleich welchen politischen Parteien, Bewegungen, Blöcken, Bündnissen u.a. Organisationen sowie einzelnen ihrer Vertreter, zumal unter den Bedingungen von Wahlkämpfen, Unterstützung zuteil werden zu lassen (…), daß die Mitgliedschaft von Geistlichen in politischen Parteien, Bewegungen, Bündnissen, Blöcken u.a. Organisationen, insbesondere in solchen, die an der Führung von Wahlkämpfen beteiligt sind, als äußerst unerwünscht erachtet wird.»
Das Bischöfliche Konzil von 1997 entwickelte die Prinzipien der Beziehungen der Kirche zu den politischen Organisationen und bekräftigte einen der Beschlüsse des vorausgegangenen Konzils, indem es der Mitgliedschaft von Geistlichen in politischen Vereinigungen den Segen verweigerte. In seiner Stellungnahme „Über die Beziehungen zwischen dem Staat und der säkularen Gesellschaft» wird insbesondere folgendes ausgeführt: „Der Dialog und die Kontakte der Kirche mit politischen Organisationen sind — sofern diese nicht den Charakter politischer Unterstützung tragen — zu begrüßen. Die Zusammenarbeit mit solchen Organisationen mit Blick auf Ziele, die für die Kirche und das Volk segensreich sind, kann — sofern eine solche Zusammenarbeit nicht im Sinne politischer Unterstützung ausgelegt wird — als zulässig betrachtet werden. Die Teilnahme von Bischöfen und Geistlichen an sämtlichen Wahlkämpfen sowie ihre Mitgliedschaft in politischen Vereinigungen, deren Satzungen die Kandidatur ihrer Mitglieder für staatliche Wahlämter auf allen Ebenen vorsehen, ist als unzulässig zu betrachten.»
Die Nichtbeteiligung der Kirche als Ganze in ihrer Vollkommenheit am politischen Kampf, an der Tätigkeit politischer Parteien sowie an Wahlkämp fen bedeutet keineswegs den Verzicht auf öffentliche Stellungnahmen zu gesellschaftlich bedeutsamen Fragen und auf Vertretung ihrer Position vor den Staatsorganen des jeweiligen Landes und auf der jeweiligen Ebene. Diese Stellungnahmen werden ausschließlich durch die kirchlichen Konzilien, die Kirchenleitung sowie die von ihnen bevollmächtigten Personen vorgebracht. Keinesfalls kann das Recht zur Äußerung solcher Positionen an staatliche Organe, an politische oder auch andere weltliche Organisationen delegiert werden.
V.3. Nichts steht einer Teilnahme der orthodoxen Laien an der Tätigkeit der Organe der gesetzgebenden, ausführenden und rechtsprechenden Gewalt sowie politischer Organisationen entgegen. Vielmehr erweist sich solche Teilnahme, sofern sie in Übereinstimmung mit der Glaubenslehre der Kirche, ihren moralischen Normen sowie ihrer offiziellen Position zu gesellschaftlichen Fragen geschieht, als eine Form der Mission der Kirche in der Gesellschaft. Die Laien sind befähigt und dazu aufgerufen, ihre Staatsbürgerpflichten durch die Teilnahme an Vorgängen, die mit der Wahl der Staatsgewalten auf allen Ebenen verbunden sind, sowie durch die Mitbeteiligung an allen moralisch gerechtfertigten staatlichen Vorhaben wahrzunehmen.
Die Geschichte der Orthodoxen Kirche liefert zahlreiche Beispiele einer überaus aktiven Mitwirkung der Laien in der Staatsregierung, an der Tätigkeit politischer u.a. bürgerlicher Vereinigungen. Diese Mitwirkung erfolgte unter den Bedingungen unterschiedlicher Systeme des Staatsaufbaus: der Autokratie, der konstitutionellen Monarchie sowie verschiedener Formen der Republik. Die Teilnahme der orthodoxen Laien an bürgerlichen und politischen Prozessen wurde lediglich unter den Bedingungen einer nicht-christlichen Herrschaft oder eines Regimes, welches sich zur Politik eines staatlichen Atheismus bekannte, erschwert.
In seiner Teilnahme an der Regierung des Staates sowie den politischen Prozessen ist der orthodoxe Christ aufgerufen, seine Handlungen auf die Normen der biblischen Moral, die Einheit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit (Ps 84.11), die Sorge um das geistige und materielle Wohl der Menschen, die Liebe zum Vaterland sowie das Streben nach Umwandlung der ihn umgebenden Welt gemäß dem Wort Christi zu gründen.
Zugleich soll sich der Christ — Politiker oder Staatsmann — der Tatsache bewußt sein, daß unter den Bedingungen der historisch gewachsenen Realität und noch mehr im Kontext der heutigen gespaltenen und widersprüchlichen Gesellschaft die Mehrheit der gefaßten Entscheidungen sowie der m die Wege geleiteten politischen Aktivitäten lediglich einem Teil der Gesellschaft Nutzen bringt, wahrend im gleichen Atemzuge die anderen m ihren Interessen und Anliegen beeinträchtigt werden Viele solcher Entscheidungen und Handlungen sind unvermeidlich von Sünde befleckt oder mit einer übermäßigen Nachsicht ihr gegenüber verbunden. Gerade aus diesem Grunde ist von dem orthodoxen Politiker oder Staatsmann äußerste geistige und moralische Wachsamkeit gefordert.
Der Christ, der am Aufbau des staatlichen und politischen Lebens beteiligt ist, ist aufgerufen, die Gabe der besonderen Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit zu suchen Von unerläßlicher Bedeutung für ihn ist, besonderes Augenmerk seinem geistigen Zustand zu widmen, damit die staatliche und politische Betätigung als ein Dienst nicht umgewandelt wird in einen Selbstzweck, der Stolz, Gier und andere Laster nährt. Es darf niemals m Vergessenheit geraten-„Throne und Herrschaften, Machte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hm geschaffen. (..) m ihm hat alles Bestand» (Kol 1.16-17). Der hl Gregor der Theologe schrieb, indem er sich den Herrschenden zuwandte: „Von Christus hast du die Herrschaft, von Christus hast du die Regierung: von Ihm hast du dem Schwert erhalten». Der hl. Johannes Chrysostomus sagt: „Der wahrhaftige Konig ist derjenige, der den Zorn, den Neid und die Wollust überwindet, den Gesetzen Gottes alles unterordnet, die Freiheit seines Verstandes wahrt und seine Seele nicht m die Macht der Leidenschaft von Vergnügungen fallen laßt. Einen solchen Mann mochte ich über die Volker, die Erde und das Meer, die Städte und Regionen und über die Heere herrschen sehen, da derjenige, der die Leidenschaften des Fleisches der Vernunft unterworfen hat, auch über die Menschen m Einklang mit den göttlichen Gesetzen gebieten wurde (…) Derjenige aber, der scheinbar über die Menschen herrscht, jedoch Sklave des Zorns, der Selbstsucht und der Vergnügungen ist, der (…) wird auch mit der Macht nicht umzugehen wissen»
V.4. Die Teilhabe der orthodoxen Laien an der Tätigkeit der staatlichen Organe sowie an den politischen Prozessen kann sowohl auf individuelle Weise als auch im Rahmen christlicher (orthodoxer) politischer Organisationen oder christlicher (orthodoxer) Teilgruppierungen größerer politischer Vereinigungen erfolgen. In beiden Fallen haben die Kinder der Kirche die Rechte der Wahl- und politischen Meinungsfreiheit, der freien Beschlußfassung wie der Umsetzung entsprechender Handlungen. Gleichzeitig handeln die Laien, die an staatlichen und politischen Angelegenheiten individuell oder in Rahmen verschiedener Organisationen teilnehmen, eigenverantwortlich, ohne ihren politischen Kampf mit der Position der Vollkommenheit der Kirche oder irgendwelcher sonstiger kanonischer kirchlicher Einrichtungen zu identifizieren oder im Namen letzterer aufzutreten. Die höchste kirchliche Gewalt erteilt der politischen Betätigung der Laien daher keinen speziellen Segen.
Das Bischöfliche Konzil der Russisch-Orthodoxen Kirche von 1994 erachtete, die Teilnahme an politischen Organisationen „von Laien sowie die Gründung solcher Organisationen durch diese» als zulässig, „die — sofern sie eine christliche oder orthodoxe Bezeichnung tragen — zu einer umfassenden Zusammenarbeit mit der Kirchenleitung aufgefordert sind. Die Teilnahme von Geistlichen, einschließlich der Vertreter der kanonischen kirchlichen Strukturen sowie der Kirchenleitung an einzelnen Veranstaltungen der politischen Organisationen, desgleichen die Zusammenarbeit der Kirche mit diesen in Fragen, die der Kirche und der Gesellschaft zum Segen gereichen — sofern eine solche Teilnahme und eine solche Zusammenarbeit nicht den Charakter der Unterstützung politischer Organisationen tragen -, die der Friedensschaffung sowie der Eintracht im Volk und dem kirchlichen Milieu dienen, sollen ebenfalls möglich sein».
Gemäß der Verfügung des Bischöflichen Konzils von 1997 wird insbesondere hervorgehoben: „Die Teilnahme von Laien an der Tätigkeit politischer Organisationen sowie die Gründung solcher Organisationen durch diese soll im Falle, wenn in letzteren keine Geistlichen vertreten sind und sie des weiteren keine verantwortlichen Konsultationen mit der Kirchenleitung führen, als möglich erachtet werden. Solche Organisationen dürfen, insofern sie sich am politischen Prozeß beteiligen, nicht den Segen der Kirchenleitung empfangen bzw. im Namen der Kirche vorsprechen. Kirchlich-gesellschaftliche Organisationen, die einen Wahlkampf führen, an politischer Agitation beteiligt sind und ihre Meinung über die Meinung der Kirche stellen, die vor dem Staat und der Gesellschaft durch die kirchlichen Konzilien, Seine Heiligkeit den Patriarchen sowie den Heiligen Synod repräsentiert wird, dürfen den Segen der Kirche nicht empfangen, und falls sie sich bereits im Besitz von diesem befinden, so wird er ihnen entzogen. Das gleiche gilt für die kirchlichen und kirchlich-gesellschaftlichen Massenmedien.»
Die Existenz christlicher (orthodoxer) politischer Organisationen sowie christlicher (orthodoxer) Teilgruppierungen größerer politischer Vereinigungen wird von der Kirche als positives Ereignis gewertet, welches den Laien insgesamt dabei hilft, die politische und staatliche Tätigkeit auf der Grundlage der christlichen geistig-sittlichen Prinzipien zu verwirklichen. Die oben erwähnten Organisationen sind bei aller Anerkennung ihrer Handlungsfreiheit gleichzeitig dazu aufgerufen, die Kirchenleitung zu Rate zu ziehen und ihre Aktivitäten im Bereich der Realisierung kirchlicher Positionen bezüglich öffentlicher Fragen aufeinander abzustimmen.
In den Beziehungen der Vollkommenheit der Kirche als Ganze zu den christlichen (orthodoxen) politischen Organisationen, an deren Betätigung die orthodoxen Laien beteiligt sind, sowie zu den einzelnen orthodoxen Politikern und Staatsmännern können Situationen auftreten, in welchen die offiziellen Erklärungen oder Handlungen dieser Organisationen bzw. Personen sich von der gesamtkirchlichen Haltung zu gesellschaftlichen Fragen grundsätzlich unterscheiden oder der Verwirklichung einer solchen Haltung im Wege stehen. In solchen Fällen stellt die Kirchenleitung die Punkte, in denen beide Positionen voneinander differieren, fest und gibt diese öffentlich bekannt, mit dem Ziel, keinerlei Verwirrung und Mißverständnisse unter den Gläubigen sowie in weiten Kreisen der Gesellschaft aufkommen zu lassen. Die Feststellung dieser Meinungsverschiedenheiten soll dem orthodoxen, politisch aktiven Laien als Anlaß dienen, die Angemessenheit der Fortsetzung seiner Mitgliedschaft in der fraglichen politischen Organisation zu bedenken. Die Organisationen der orthodoxen Christen dürfen nicht nach dem Vorbild von Geheimgesellschaften aufgebaut sein, die die ausschließliche Unterwerfung unter ihre Führer sowie die bewußte Weigerung verlangen, das Betätigungsfeld dieser Organisationen weder im Rahmen von Konsultationen mit der Kirchenleitung noch selbst unter Ablegung der Beichte offenzulegen. Die Kirche kann die Mitgliedschaft von orthodoxen Laien, und noch weniger die von Geistlichen in derartigen nicht-orthodoxen Gesellschaften nicht gutheißen, weil sie schon allein aufgrund ihres Charakters den Menschen von der ganzheitlichen Treue zur Kirche Gottes und ihrer kanonischen Ordnung entfernen.
VI. Die Arbeit und ihre Früchte
VI.1. Die Arbeit stellt einen organischen Bestandteil des menschlichen Lebens dar. Im Buch Genesis wird darüber berichtet, daß „es noch keinen Menschen (gab), der den Ackerboden bestellte» (Gen 2.5); nachdem Er den Paradiesgarten geschaffen hatte, setzte Gott den Menschen in ihn, „damit er ihn bebaue und hüte» (Gen 2.15). In der Arbeit erfolgt die schöpferische Erfüllung des Menschen, der kraft seiner ursprünglichen Gottebenbildlichkeit berufen ist, Mitschöpfer und Mitarbeiter des Herrn zu sein. Mit dem Abfall des Menschen von Gott änderte sich jedoch auch der Charakter der Arbeit: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; du bist ja von ihm genommen. Denn Staub bist du, zum Staub mußt du zurück» (Gen 3.19). Die schöpferische Komponente der Arbeit schwand; für den abtrünnigen Menschen wurde sie nunmehr vornehmlich zum Mittel, sich den Lebensunterhalt zu erwerben.
VI.2. Das Wort Gottes richtet die Aufmerksamkeit der Menschen nicht nur auf die Notwendigkeit der täglichen Arbeit, sondern bestimmt auch den ihr eigenen Ablauf. Das vierte Gebot lautet: „Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An dem darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat» (Ex 20.8-10). Durch dieses Gebot des Herrn fügt sich die menschliche Arbeit in das göttliche Schöpferwerk ein, welches den Anfang der Welt legte. Schließlich wird zur Begründung des Ruhegebots am Sabbat vorgebracht, daß bei der Schöpfung der Welt „Gott (…) den siebten Tag (segnete) und (…) ihn für heilig (erklärte); denn an ihm ruhte Gott, nachdem er das ganze Werk der Schöpfung vollendet hatte» (Gen 2.3). Der ganze Tag soll dem Herrn gewidmet sein, auf daß die Sorgen des Alltags den Menschen nicht dazu bringen, sich vom Schöpfer abzukehren. Gleichwohl stellen tatkräftige Formen der Barmherzigkeit sowie selbstlose Hilfe für den Nächsten keinen Verstoß gegen das Gebot dar: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat» (Mk 2.27). In der Tradition des Christentums seit dem Apostolischen Zeitalter wurde der erste Tag der Woche — der Tag der Auferstehung Christi — zum arbeitsfreien Tag erklärt.
VI.3. Die Vervollkommnung der Arbeitsgeräte und -methoden, die Teilung der Arbeit in verschiedene Berufe sowie der Übergang von einfachen zu komplizierteren Formen der Arbeit tragen zur Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen der Menschen bei. Allerdings liegt in den Errungenschaften der Zivilisation auch die Verführung der Menschen, sich vom Schöpfer zu entfernen, führen sie doch zum scheinbaren Triumph einer Vernunft, die das Leben auf der Erde ohne Gott zu regeln bestrebt ist. In der Geschichte der Menschheit hat die Verwirklichung derartiger Bestrebungen jedes Mal ein tragisches Ende genommen.
Die Heilige Schrift sagt, daß die ersten Schöpfer der irdischen Zivilisation die Nachfolger Kains waren: Lamech und dessen Kinder erfanden und stellten die ersten Kupfer- und Eisengeräte, Tragezelte und verschiedene Musikinstrumente her und wurden somit zu Begründern zahlreicher Handwerke und Künste (Gen 4.20-22). Zusammen mit den anderen Menschen mieden sie jedoch nicht die Versuchungen: „denn alle Wesen aus Fleisch auf der Erde lebten verdorben» (Gen 6.12), und aus diesem Grunde findet die Zivilisation der Nachkommen Kains nach dem Willen des Schöpfers mit der Sintflut ihr Ende. Das anschaulichste biblische Beispiel eines erfolglosen Versuchs der abtrünnigen Menschheit, sich „einen Namen zu machen», stellt der Bau des Babylonischen Turms „mit einer Spitze bis zum Himmel» (Gen 11.4) dar. Der Turmbau zu Babel dient als Inbegriff der vereinigten Kräfte der Menschen, ein gotteswidriges Ziel zu erreichen. Der Herr bestraft die Hochmütigen: durch die Verwirrung der Sprachen verwehrt Er ihnen, sich untereinander zu verständigen, und zerstreut sie über die ganze Erde.
VI.4. Aus christlicher Sicht stellt die Arbeit an sich keinen unbedingten Wert dar. Sie wird gesegnet, wenn sie als Mitarbeit für den Herrn gelten kann und zur Verwirklichung von Dessen Ratschluß über die Welt und den Menschen beiträgt. Gleichzeitig ist die Arbeit nicht gottgefällig, wenn sie auf den Dienst an den selbstbezogenen Interessen der Person oder von menschlichen Gesellschaften gerichtet ist, ebensowenig wenn sie auf die Befriedigung sündhafter Bedürfnisse des Geistes und des Körpers abzielt.
In der Heiligen Schrift sind zwei moralische Beweggründe zur Arbeit belegt: die Arbeit um des eigenen Lebensunterhalts willen, ohne anderen zur Last zu fallen, sowie Arbeit, um den Bedürftigen zu geben. Der Apostel schreibt: „Der Dieb soll nicht mehr stehlen, sondern arbeiten und sich mit seinen Händen etwas verdienen, damit er den Notleidenden etwas davon geben kann» (Eph 4.28). Diese Art von Arbeit erzieht die Seele und kräftigt den Körper, versetzt den Christen in die Möglichkeit, seinen Glauben durch gottgefällige Werke der Barmherzigkeit sowie der Nächstenliebe unter Beweis zu stellen (Mt 5.16; Jak 2.17). Jeder ist der Worte des Apostels Paulus gewahr: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen» (2Thess3.10).
Die ethische Tragweite der Arbeit ist von den Kirchenvätern und -lehrern stets hervorgehoben worden. So war nach den Worten des hl. Klemens von Alexandrien die Arbeit die „Schule der sozialen Gerechtigkeit». Der hl. Hierarch Basilius der Große bestätigte, daß „die gottesfürchtige Gesinnung nicht als Vorwand für Untätigkeit und Arbeitsflucht dienen dürfte, sondern als Ansporn zu noch größe ren Werken». Der hl. Johannes Chrysostomus rief dazu auf, nicht „die Arbeit, sondern den Müßiggang als Ehrlosigkeit» zu betrachten. Das Beispiel eines asketi schen, arbeitsamen Lebens gaben die Mönche zahlreicher Klöster. Ihre wirtschaft liche Tätigkeit galt in vieler Hinsicht als nachahmenswertes Exempel, während die Gründer der größten Mönchsklöster, nicht nur die höchste geistliche Autorität genossen, sondern ebenso für ihre außerordentliche Arbeitsbeflissenheit berühmt waren. Weithin bekannt als Vorbilder unermüdlicher Arbeit sind die Heiligen Väter Teodosij Pecerskij, Sergij von Radonez, Kyrill Belozerskj, Josif Volockij, Nil, Sorskij und andere russische Asketen.
VI.5. Die Kirche segnet jede auf das Wohl der Menschen gerichtete Arbeit, ungeachtet der Art dieser menschlichen Tätigkeit, sofern diese mit christlichen moralischen Grundsätzen übereinstimmt. In seinen Gleichnissen führt unser Herr Jesus Christus stets verschiedene Berufe an, ohne irgendeinen davon auszunehmen. Er spricht über die Arbeit des Sämanns (Mk 4.3-9), des Verwalters und des Knechts (Lk 12.42-48), des Kaufmanns und der Fischer (Mt 13.45-48), des Gutsherrn und der Arbeiter eines Weinbergs (Mt 20.1-16). Die Gegenwart jedoch hat ganze Industrien hervorgebracht, deren ausdrückliche Zielsetzung in der Propaganda des Lasters und der Sünde wie auch der Befriedigung verderblicher Leidenschaften und Gewohnheiten besteht, als Beispiele können Trunksucht und Drogenabhängigkeit, Unzucht sowie Ehebruch angeführt werden. Die Kirche bezeugt die Sündhaftigkeit der Beteiligung an solchen Tätigkeiten, stellen doch diese den Verderb nicht nur der Werktätigen, sondern auch der Gesellschaft insgesamt dar.
VI.6. Der Werktätige hat das Recht, die Früchte seiner Arbeit zu genießen: „Wer pflanzt einen Weinberg und ißt nicht von seinem Ertrag? Oder wer weidet eine Herde und trinkt nicht von der Milch der Herde? (…) Denn der Pflüger wie der Drescher sollen ihre Arbeit in der Erwartung tun, ihren Teil zu erhalten» (1 Kor 9.7, 10). Die Kirche lehrt, daß die Verweigerung der Entlohnung ehrlicher Arbeit nicht nur ein Verbrechen gegen den Menschen, sondern gleichsam eine Sünde vor Gott ist.
Die Heilige Schrift sagt: „Du sollst den Lohn eines Notleidenden und Armen unter deinen Brüdern oder unter den Fremden, die in deinem Land innerhalb der Stadtbereiche wohnen, nicht zurückhalten (…). Dann wird er auch nicht den Herrn gegen dich anrufen, und es wird keine Strafe oder Sünde über dich kommen» (Dtn 24.14-15). „Weh dem, (…) der seinen Nächsten ohne Entgelt arbeiten läßt und seinen Lohn nicht gibt» (Jer 22.13). „Aber der Lohn der Arbeiter, die eure :elder abgemäht haben, der Lohn, den ihr ihnen vorenthalten habt, schreit zum -limmel; die Klagerufe derer, die eure Ernte eingebracht haben, dringen zu den Ohren des Herrn der himmlischen Heere» (Jak 5.4).
Des weiteren gebietet der Befehl Gottes den Werktätigen, für diejenigen Menschen — Schwache, Kranke, Fremde (Flüchtlinge), Waisen und Witwen -Sorge zu tragen, die aus verschiedenen Gründen ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen können, desgleichen auch mit ihnen die Früchte der Arbeit zu teilen, „damit der Herr, dein Gott, dich bei jeder Arbeit deiner Hände segnet» (Dtn 24.19-22).
Indem sie auf der Erde den Dienst Christi fortsetzt, der Sich namentlich mit den Elenden identifizierte, setzt sich die Kirche beständig für die Rechte der Stimmlosen und Ohnmächtigen ein. Deshalb fordert sie die Gesellschaft zur gerechten Verteilung der Früchte der Arbeit auf, wobei der Reiche den Armen, der Gesunde den Kranken und der Arbeitsfähige den Hochbetagten unterstützt. Das geistige Wohl und die Selbsterhaltung der Gesellschaft sind nur unter der Voraussetzung möglich, daß die Sicherung des Lebens, der Gesundheit sowie des minimalen Wohlstands aller Bürger unbedingte Priorität bei der Verteilung der materiellen Ressourcen genießt.
VII. Eigentum
VII.1. Unter Eigentum wird üblicherweise die gesellschaftlich anerkannte Form des Verhältnisses des Menschen zu den Früchten der Arbeit sowie den natürlichen Ressourcen verstanden. Die grundlegenden Rechte des Eigentümers schließen Besitz und Gebrauch, Verwaltung und Nutznießung, Veräußerung, Verpachtung, Änderung oder Vernichtung des Eigentums ein.
Die Kirche bestimmt die Rechte der Menschen auf Eigentum nicht im einzelnen. Die materielle Seite des menschlichen Lebens bleibt jedoch nicht außerhalb ihres Augenmerks. Neben der Berufung, zuerst das Reich Gottes und Seine Gerechtigkeit (Mt 6.33) zu suchen, vergißt die Kirche nicht das Bedürfnis nach dem täglichen Brot (Mt 6.11), und ist der Ansicht, daß jeder Mensch ausreichende Mittel für eine würdige Existenz haben muß. Zugleich warnt die Kirche vor übermäßiger Neigung zu materiellen Gütern und verurteilt diejenigen, die der Versuchung, bestehend aus „den Sorgen, dem Reichtum und den Genüssen des Lebens», unterliegen (Lk 8.14). Die Position der Orthodoxen Kirche zum Eigentum beinhaltet weder eine Geringachtung der materiellen Bedürfnisse, noch dessen Gegenteil, nämlich ein Lob des Erwerbs materieller Güter als das höchste Ziel und Gut menschlichen Daseins. Die Vermögensverhältnisse eines Menschen an sich geben keinen Aufschluß darüber, inwieweit der Betreffende gottgefällig lebt.
Das Verhältnis des orthodoxen Christen zum Eigentum soll sich auf dem biblischen Gebot der Nächstenliebe gründen, welches in den Worten des Heilands Ausdruck findet: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch liebe, so sollt ihr auch einander lieben!» (Joh 13.34). Dieses Gebot liegt dem moralischen Verhalten der Christen zugrunde. Ihnen und — nach Überzeugung der Kirche — ebenso den anderen Menschen soll es als Richtlinie im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, einschließlich der Regelung der Eigentumsverhältnisse, gelten.
Nach der Lehre der Kirche erhalten die Menschen alle irdischen Güter von Gott, Dem auch das ausschließliche Verfügungsrecht über diese zusteht. Die Vergänglichkeit des Eigentumsrechts des Menschen stellt der Erlöser in Seinen Gleichnissen mehrfach heraus: Beispiele dafür sind sowohl der verpachtete Weinberg (Mk 12.1-9) als auch die unter die Menschen verteilten Talente (Mt 25.14-30), ebenfalls das unter vorübergehender Verwaltung stehende Gut (Lk 16.1-13). Indem er den der Kirche eigenen Gedanken über das unbedingte Besitzrecht Gottes über alles betont, fragt der hl. Hierarch Basilius der Große: „Sag mir, was gehört ausschließlich dir? Woher hast du es genommen und ins Leben gebracht?» Das sündhafte Verhältnis zum Eigentum, welches sich im Vergessen oder in der bewußten Abkehr von diesem geistigen Prinzip äußert, hat die Trennung und gegenseitige Entfremdung unter den Menschen zur Folge.
VII.2. Materielle Güter können den Menschen nicht glücklich machen. Der Herr Jesus Christus warnt: „Gebt acht, hütet euch vor jeder Art von Habgier. Denn der Sinn des Lebens besteht nicht darin, daß ein Mensch aufgrund seines großen Vermögens in Überfluß lebt» (Lk 12.15). Die Jagd nach Reichtum hat zerstörerische Auswirkungen auf den seelischen Zustand des Menschen und führt potentiell zur vollständigen Herabwürdigung der Person. Der Apostel Paulus weist darauf hin: „Wer aber reich werden will, gerät in Versuchungen und Schlingen, er verfällt vielen sinnlosen und schädlichen Begierden, die den Menschen ins Verderben und in den Untergang stürzen. Denn die Wurzel aller Übel ist die Habsucht. Nicht wenige, die ihr verfielen, sind vom Glauben abgeirrt und haben sich viele Qualen bereitet. Du aber, ein Mann Gottes, flieh vor all dem» (1 Tim 6.9-11). Im Gespräch mit dem jungen Mann sprach der Herr: „Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir» (Mt 19.21). Im Anschluß daran erklärte Christus den Jüngern seine Worte: „Ein Reicher wird nur schwer in das Himmelreich kommen. (…) Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in das Reich Gottes gelangt» (Mt 19.23-24). Der Evangelist Markus ergänzt, daß denjenigen, die nicht auf Gott, sondern auf materielle Güter vertrauen — „die viel besitzen» (Mk 10.24) -, es am schwersten haben, ins Reich Gottes zu kommen. Nur „wer auf den Herrn vertraut, steht fest wie der Zionsberg, der niemals wankt, der ewig bleibt» (Ps 125.1 / Original: 124.1). Im übrigen kann auch der Reiche erlöst werden, denn „was für Menschen unmöglich ist, ist für Gott möglich» (Lk 18.27). In der Heiligen Schrift ist keine moralische Verurteilung des Reichtums an sich enthalten. Abraham und die alttestamentlichen Patriarchen, der gerechte Ijob, Nikodemus sowie Joseph von Arimathea waren wohlhabende Menschen. Wer über bedeutenden Reichtum verfügt, begeht keine Sünde, sofern er ihn gemäß dem Willen Gottes, Dem alles Wahre gehört, sowie dem Gebot der Liebe in Gebrauch nimmt; bestehen doch die Freude und die Fülle des Lebens nicht im Erwerben und Haben, sondern vielmehr im Geben und Opfern. Der Apostel Paulus ruft auf zur „Erinnerung an die Worte Jesu, des Herrn, der selbst gesagt hat: Geben ist seliger als Nehmen» (Apg 20.35). Nach der Meinung des hl. Hierarchen Basilius des Großen ist derjenige ein Dieb zu nennen, der nicht einen Teil seines Eigentums zugunsten seines Nächsten opfert. Diesen Gedanken hebt der hl. Johannes Chrysostomus hervor: „Von seinem Eigentum nicht hingeben ist gleichsam Raub.» Die Kirche ruft den Christen auf, das Eigentum als Gabe Gottes anzunehmen, die ihm zum Nutzen für das eigene sowie des Nächsten Wohl gegeben worden ist.
Zugleich erkennt die Heilige Schrift das Recht eines jeden Menschen auf Eigentum an, so wie sie auch Eingriffe in dieses verurteilt. Zwei der zehn Gebote thematisieren das ausdrücklich: „Du sollst nicht stehlen. (…) Du sollst nicht nach dem Hause deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgend etwas, das deinem Nächsten gehört» (Ex 20.15, 17). Dieses Verhältnis zum Eigentum hat auch im Neuen Testament seine Gültigkeit bewahrt und gleichzeitig eine tiefgreifendere moralische Begründung erfahren. Hierzu sagt das Evangelium: „Denn die Gebote: (…) du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren!, und alle anderen Gebote sind in dem einen Satz zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst» (Rom 13.9).
VII.3. Die Kirche erkennt die Existenz zahlreicher Eigentumsformen an. Die staatliche, öffentliche, körperschaftliche, private und gemischte Eigentumsform sind in den einzelnen Ländern auf unterschiedliche Art und Weise im Verlauf der historischen Entwicklung verankert worden. Aus Sicht der Kirche ist keine dieser Formen zu bevorzugen. Jede von ihnen kann ebenso sündhaften Erscheinungen wie Diebstahl, Habgier und ungerechter Verteilung der Früchte der Arbeit zugrunde liegen wie auch als Voraussetzung einer würdigen, moralisch begründeten Nutzung der materiellen Güter dienen.
In zunehmender Bedeutung begriffen ist das intellektuelle Eigentum, dessen Objekte wissenschaftliche Arbeiten und Leistungen, Informationstechnologien, Kunstwerke sowie weitere Errungenschaften des schöpferischen Geistes sind. Die Kirche begrüßt das schöpferische Wirken, welches auf das Wohl der Gesellschaft gerichtet ist, und verurteilt die Mißachtung der Urheberrechte auf das intellektuelle Eigentum. Gewaltsamer Entzug sowie Neuverteilung des Eigentums unter Nichtbeachtung der Rechte des legitimen Eigentümers können unter keinen Umständen die Zustimmung der Kirche finden. Auf der Basis eines Gesetzes kann allerdings eine Ausnahme für eine Enteignung zugelassen werden, die — als im Interesse der Allgemeinheit liegend — von einer gerechten Entschädigung begleitet ist. Die Erfahrung der vaterländischen Geschichte zeigt, daß Zuwiderhandlungen gegen diese Prinzipien unabwendbar soziale Erschütterungen und menschliches Leid zur Folge haben.
In der Geschichte des Christentums waren das Vereinen von Eigentum sowie der Verzicht auf persönliches Besitzstreben für viele Gemeinden charakteristisch. Diese Art der Eigentumsverhältnisse trug zur Festigung der geistigen Einheit der Gläubigen bei und brachte in vielen Fällen auch einen wirtschaftlichen Nutzen, wobei die orthodoxen Klöster als Beispiel hierfür dienen können. Der Verzicht auf Privateigentum in der ersten Christengemeinde (Apg 4.32) sowie später auch in den auf gemeinschaftlichen Kosten unterhaltenen Klöstern trug jedoch ausschließlich freiwilligen Charakter und war durch die persönliche geistige Wahl begründet.
VII.3. Das Eigentum der religiösen Organisationen stellt eine Sonderform des Eigentums dar. Dieses wird auf unterschiedlichen Wegen erworben, jedoch haben die freiwilligen Spenden der Gläubigen den Hauptanteil daran. Der Heiligen Schrift zufolge ist die Gabe heilig und gehört im wahrsten Sinne des Wortes dem Herrn; der Opfernde gibt dem Herrn und nicht dem Priester (Lev 27.30; Esr 8.28). Die Gabe ist eine freiwillige Tat, die durch den Gläubigen im Namen religiöser Ziele vollbracht wird (Neh 10.32). Die Gabe soll nicht nur den Dienern der Kirche, sondern auch dem ganzen Volk Gottes zugute kommen (Phil 4.14-18). Die Opfergabe ist — als Gott geweihte Gabe — unantastbar, weshalb jeder, der sich daran vergeht, zu größeren Rückgaben verpflichtet ist, als er genommen hat (Lev 5.14-15). Das freiwillige Geben ist eines der Hauptgebote, die dem Menschen von Gott auferlegt sind (Sir 7.30-34). Vor diesem Hintergrund sind die Spenden als ein Sonderfall der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse anzusehen, insofern als sie von denjenigen Gesetzen ausgenommen werden sollen, die die Finanzen und die Wirtschaft des Landes und im besonderen die staatliche Besteuerung regeln. Nach Ansicht der Kirche darf ein Einkommen besteuert werden, wenn es aus unternehmerischer Quelle stammt, jedoch stellen jegliche Eingriffe in die Spenden der Gläubigen ein Verbrechen vor den Menschen und vor Gott dar.
VIII. Krieg und Frieden
VIII.1. Der Krieg ist die physische Erscheinungsform der verborgenen geistigen Krankheit der Menschheit, des brudermordenden Hasses (Gen 4.3-12). Kriege haben die Menschheit in ihrer gesamten Geschichte seit dem Sündenfall begleitet; den Worten des Evangeliums zufolge wird das auch in Zukunft so sein: „Wenn ihr dann von Kriegen hört und Nachrichten über Kriege euch beunruhigen, laßt euch nicht erschrecken! Das muß geschehen» (Mk 13.7). Davon legt auch die Apokalypse Zeugnis ab, die über den Endkampf zwischen den Kräften des Guten und des Bösen am Berg Armageddon (Offb 16.16) weissagt. Die im Hochmut und in der Auflehnung gegen den Willen Gottes wurzelnden Kriege auf Erden sind nur eine Widerspiegelung des Kampfes im Himmel. Durch die Sünde verdorben wurde der Mensch von der Elementargewalt dieses Kampfes überwältigt. Der Krieg ist Böses. Der Grund des Krieges, wie überhaupt des Bösen im Menschen, liegt im sündhaften Mißbrauch der gottgegebenen Freiheit, „denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaussagen und Verleumdungen» (Mt 15.19).
Bereits zu Anbeginn der Heiligen Geschichte galt der Mord, ohne den es Krieg» nicht gäbe, als schweres Verbrechen vor Gott. „Du sollst nicht morden», lautet das Gesetz Mose (Ex 20.13). Gleich allen Religionen der Antike ist das Blut im Alten Testament heilig, im Blut ist das Leben (Lev 17.11-14). „Blut entweiht das Land», steht in der Heiligen Schrift. Der gleiche biblische Text ermahnt zugleich diejenigen, die zu den Waffen greifen: „und man kann das Land von dem darin vergossenen Blut nur durch das Blut dessen entsühnen, der es vergossen hat» (Num 35.33).
VIII.2. Die Christen, die den Menschen die frohe Botschaft der Versöhnung bringen (Rom 10.15), die sich zugleich jedoch in „dieser Welt» befinden, die unter der Macht des Bösen steht (1 Joh 5.19) und von Gewalt beherrscht wird, werden gegen ihren Willen in verschiedene Konfliktsituationen des Lebens gebracht. Trotz der Erkenntnis des Krieges als Böses verbietet die Kirche ihren Kindern nicht, sich an Kampfhandlungen zu beteiligen, solange ihr Zweck die Verteidigung der Nächsten sowie die Wiederherstellung verletzter Gerechtigkeit ist. In solchen Fällen gilt der Krieg als unerwünschtes, allerdings unumgängliches Mittel. Die Haltung der Orthodoxie gegenüber den Kriegern, die um den Preis des eigenen Lebens das Leben sowie die Unversehrtheit ihrer Nächsten schützten, war zu allen Zeiten von größter Hochachtung geprägt. Viele Krieger wurden von der Kirche heiliggesprochen in Anerkennung ihrer christlichen Tugenden und das Wort Christi anwendend: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt» (Joh 15.13).
Als der hl. Apostelgleiche Kyrill von dem Patriarchen Konstantinopels mit einem evangelischen Missionsauftrag entsandt wurde und in die Hauptstadt der Sarazenen kam, hatte er ein Streitgespräch mit den gelehrten Nachfolgern Mohammeds über den Glauben zu bestehen. Unter anderem wurde ihm folgende Frage gestellt: „Christus ist euer Gott. Er hat euch befohlen, für eure Feinde zu beten, denen, die euch hassen und verfolgen Gutes zu tun, denen, die euch auf die rechte Wange schlagen, auch die andere hinzuhalten, und was macht ihr? Wenn jemand euch beleidigt, schärft ihr eure Schwerter, ihr zieht in den Kampf iund tötet. Warum hört ihr nicht auf euren Christus?» Nachdem er sich das janhörte, wandte sich der hl. Kyrill an seine Mit-Disputanten: „Wenn in einem Gesetz zwei Befehle enthalten sind, welcher Mensch würde in vollkommenerer ‘Weise seine Treue zu den Gesetzen bekunden — derjenige, der nur einen, oder derjenige, der beide Befehle erfüllt?» Als die Muslime sagten, daß derjenige das Gesetz auf vollkommenere Weise erfüllt, der beiden Befehlen nachgeht, fuhr der [heilige Prediger fort: „Unser Gott Christus, der uns befohlen hat, für jene zu fbeten, die uns beleidigen und ihnen Gutes zu tun, hat auch gesagt, daß in dieser iWelt niemand zu größerer Liebe fähig ist als derjenige, der sein Leben für seine (Freunde hingibt (Joh 15.13 / Original: 15.3). Eben deshalb erdulden wir großen (Herzens Beleidigungen, die uns als Einzelpersonen zugefügt werden, in der Gemeinschaft jedoch verteidigen wir einander und geben unser Leben im Kampf ffür unsere Nächsten, damit ihr nach der Gefangennahme unserer Mitbürger samt ihren Körpern nicht auch Besitz von deren Seelen ergreift, indem ihr sie zum (Abfall vom Glauben und zu gotteswidrigen Taten zwingt. Unsere christuslieben den Soldaten verteidigen mit der Waffe in der Hand die Heilige Kirche, verteidigen den Herrscher, in deren geheiligter Person das Antlitz der Macht des Himmlischen Herrschers verehrt wird, verteidigen das Vaterland, deren Zerstörung unabwendbar den Fall der vaterländischen Macht sowie die Erschütterung des evangelischen Glaubens nach sich zöge. Das sind die erhabenen Ziele, für die die Soldaten bis zum letzten Blutstropfen kämpfen sollen, und wenn sie auf dem Schlachtfeld ihre Seelen fahren lassen, werden sie von der Kirche als Märtyrer heiliggesprochen und als Fürsprecher vor Gott erachtet.»
VIII.3. „Alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen» (Mt 26.52) — in diesen Worten des Erlösers liegt die Rechtfertigung der Idee vom gerechten Krieg. Unter christlichen Gesichtspunkten muß das Verständnis von moralischer Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen von folgenden Hauptprinzipien ausgehen: Liebe zum Nächsten, zum Volk und zum Vaterland, Verständnis der Nöte fremder Völker, Überzeugung davon, daß es unmöglich ist, dem Wohl des eigenen Volkes mit Hilfe unmoralischer Mittel zu dienen. Diese drei Prinzipien haben die moralischen Grenzen des Krieges abgesteckt; sie wurden durch die christliche Welt des Mittelalters entwickelt, als die Menschen der jeweils konkreten Situation gemäß versuchten, die Elemente militärischer Gewalt in Schranken zu halten. Bereits damals wurde die Überzeugung vertreten, daß der Krieg nach bestimmten Regeln zu führen sei, daß auch der kämpfende Mensch sein moralisches Gesicht nicht verlieren dürfte, indem er vergäße, daß sein Gegner genauso Mensch ist wie er selbst.
Die Entwicklung hoher juristischer Normen in den internationalen Beziehungen wäre ohne den moralischen Einfluß, den das Christentum auf Herz und Verstand der Menschen ausgeübt hat, nicht möglich gewesen. Der Forderung nach Gerechtigkeit im Krieg wurde in der Tat zwar nur selten nachgekommen, allein die Tatsache jedoch, daß die Frage nach der Gerechtigkeit gestellt wurde, hielt zeitweise einander bekämpfende Menschen vor allzu großer Grausamkeit ab.
In der westlichen christlichen Tradition, die auf den hl. Augustinus zurückgeht, werden bei der Feststellung, ob ein Krieg gerecht ist, gewöhnlich verschiedene Faktoren ins Feld geführt, die einen Kriegsbeginn auf eigenem oder fremdem Territorium rechtfertigen. Hierzu zählen folgende:
- ein Krieg darf zum Ziel der Wiederherstellung der Gerechtigkeit erklärt werden;
- einen Krieg erklären darf nur das gesetzlich bestimmte Staatsorgan;
- das Recht zur Gewaltanwendung steht nicht einzelnen Personen oder Personengruppen zu, sondern Vertretern der oben genannten bürgerlichen Gewalten;
- ein Krieg darf erst dann erklärt werden, wenn alle friedlichen Mittel der Verhandlungsführung mit der gegnerischen Seite sowie zur Wiederherstellung der Ausgangssituation bereits ausgeschöpft sind;
- ein Krieg darf nur dann erklärt werden, wenn berechtigte Aussichten auf Erreichen der geplanten Ziele bestehen;
- die geschätzten militärischen Verluste und Zerstörungen sollen der Situation sowie den Zielen des Krieges angemessen sein (Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel);
- während des Kriegsverlaufs soll der Schutz der Zivilbevölkerung vor direkten
Militäraktionen gewährleistet sein; - ein Krieg kann nur durch den Wunsch nach Wiederherstellung von Frieden und | Ordnung gerechtfertigt werden.
Im gegenwärtigen System der internationalen Beziehungen fällt es unter Umständen schwer, die Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidi gungskrieg zu treffen. Die Grenze ist oft fließend, wenn einer oder mehrere Staaten bzw. die internationale Gemeinschaft Militäraktionen beginnen und diese mit der Notwendigkeit des Schutzes eines Volkes, das einer Aggression zum Opfer gefallen ist, begründen (vgl. XV.1). Dies berücksichtigend muß über die Frage nach der Unterstützung militärischer Handlungen seitens der Kirche für jeden einzelnen Fall, in dem solche bereits begonnen haben bzw. drohen zu beginnen, entschieden werden.
Ein greifbares Merkmal, anhand dessen über Billigkeit oder Unbilligkeit des Vorgehens einer kämpfenden Truppe geurteilt werden kann, sind die Methoden der Kriegsführung, ferner das Verhalten gegenüber Gefangenen und der friedlichen Bevölkerung des gegnerischen Staates, insbesondere Frauen, Kindern und alten Menschen. Selbst die Abwehr gegen Angriffe kann Anstiftung zu Bösem mit sich bringen, so daß man in moralischer und geistiger Hinsicht keineswegs immer über dem Angreifer steht. Der Krieg soll mit gerechtem Zorn, niemals mit Bosheit, Habsucht und Begierde (1 Joh 2.16) und anderen Ausgeburten der Hölle geführt werden. Eine richtige Beurteilung des Krieges als Heldentat oder Raubüberfall kann nur dann erfolgen, wenn der moralische Zustand der Kämpfenden analysiert wird. „Freu dich nicht, wenn einer gestorben ist, bedenke: Wir alle werden sterben», steht in der Heiligen Schrift (Sir 8.7 / Original: 8.8). Die humane Behandlung von Verwundeten und Gefangenen bei den Christen leitet sich aus den Worten des Apostels Paulus her: „Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; tust du das, dann sammelst du glühende Kohlen aufsein Haupt Laß dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute» (Rom 12.20-21).
VIII.4. In der Ikonographie des hl. Georg wird die schwarze Schlange von den Hufen eines Pferdes zertreten, das immer in strahlendem Weiß gemalt wird. Dies ist eine anschauliche Darstellung: das Böse und der Kampf dagegen sollen voneinander vollständig getrennt sein, damit man, während man das Böse bekämpft, nicht selbst ein Teil von ihm wird. In keiner Lebenssituation, die Gewaltanwendung erfordert, darf das Herz unter die Macht von bösen Gefühlen gelangen, die Teufels- oder ähnlichen Mächten verwandt sind. Einzig der Sieg über das Böse in seiner Seele befähigt den Menschen, Gewalt auf eine gerechte Weise zu üben. Eine solche Ansicht, die der Liebe in den zwischenmenschlichen Beziehungen den Vorrang einräumt, verwirft von Grund auf die Idee des Unterlassens von Widerstand gegen das Böse durch Gewalt. Das christliche sittliche Gesetz verurteilt nicht den Kampf gegen das Böse, nicht die Anwendung von Gewalt gegenüber dessen Träger, nicht einmal das Opfer dessen Lebens als letzte Notmaßnahme, sondern das Böse im menschlichen Herzen, den Wunsch nach Demütigung und Tod eines anderen Menschen, wer auch immer er sei.
In diesem Zusammenhang trägt die Kirche besondere Sorge für das Militär, indem sie sich bemüht, es im Geiste der Treue zu hohen sittlichen Idealen zu erziehen. Die von der Kirche geschlossenen Abkommen über Mitarbeit in den Streitkräften und den Exekutivorganen der Justiz eröffnen beträchtliche Möglichkeiten, die künstlich gezogenen Gräben zu überwinden und das Militär zurückzubringen zu den im Laufe von Jahrhunderten bewährten orthodoxen Traditionen des Dienstes am Vaterland. Die orthodoxen Seelsorger sind — als Träger eines besonderen geistlichen Dienstes in der Armee und ebenso als Geistliche in Klöstern oder Gemeinden — aufgerufen, unermüdlich das Militär zu betreuen und für seinen sittlichen Zustand Sorge zu tragen.
VIII.5. Dem christlichen Friedensverständnis liegen die Gelübde Gottes zugrunde, die in der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments bezeugt sind. Diese Gelübde, die der Geschichte ihre wahre Bedeutung verleihen, wurden zunächst in Jesus Christus verwirklicht. Für Seine Nachfolger ist der Friede ein gnadenreiches Geschenk Gottes, um das wir beten und um das wir Gott für uns selbst sowie für alle Menschen anrufen. Das biblische Verständnis vom Frieden weist einen wesentlich weiteren Horizont auf als das politische. Der hl. Apostel Paulus weist darauf hin, daß „der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, (…) eure Herzen und eure Gedanken (…) bewahren (wird)» (Phil 4.7). Er übersteigt bei weitem den Frieden, den die Menschen aus eigener Kraft zu stiften imstande sind. Der Friede des Menschen mit Gott, mit sich selbst und mit den anderen Menschen ist untrennbar miteinander verbunden.
Bei den alttestamentlichen Propheten wird der Friede als ein endzeitliche? Zustand geschildert: „Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. (…) Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist» (Jes 11.6-9). Dieses eschatologische Ideal ist mit der Offenbarung des Messias verbunden, Dessen Name Fürst des Friedens ist (Jes 9.5 / Original: 9.6). Krieg und Gewalt werden von der Erde verschwinden: „Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg» (Jes 2.4). Jedoch ist der Friede nicht nur ein Geschenk Gottes, sondern auch eine Aufgabe der Menschheit. Die Bibel nährt die Hoffnung, daß der Friede mit Hilfe Gottes bereits innerhalb der Grenzen unseres irdischen Daseins verwirklicht werde.
Nach dem Zeugnis des hl. Propheten Jesaja ist der Friede ein Werk der Gerechtigkeit (Jes 32.17). Die Heilige Schrift thematisiert die göttliche und die menschliche Gerechtigkeit. Beide stehen in Bezug zu dem Bund, den Gott mit dem auserwählten Volk geschlossen hat (Jer 31.35). In diesem Kontext wird Gerechtigkeit primär als Bündnistreue aufgefaßt. Sofern die Menschen gegen den Bund handeln, d.h. sofern sie nicht gerecht sind, gehen sie auch des Werks der Gerechtigkeit: des Friedens verlustig. Gleichzeitig war einer der Hauptbestandteile der Gesetzgebung vom Sinai die Forderung nach Gerechtigkeit im Verhältnis zum Nächsten. Die Gebote des Gesetzes zielten nicht auf eine lästige Restriktion der Freiheit der Person, sondern auf den Aufbau des Lebens gemäß dem Gerechtigkeitsprinzip, um relativen Frieden, Ordnung und Ruhe zu gewinnen. Für Israel bedeutete dies, daß der Friede im sozialen Zusammenleben sich nicht aus eigener Kraft oder unter dem Einfluß natürlicher Gesetzmäßigkeiten einstellt, sondern zuerst als Gabe der Göttlichen Gerechtigkeit, sodann als Frucht der religiösen Bemühungen des Menschen, mit anderen Worten: seiner Treue zu Gott, möglich wird. Dort, wo die Menschen Dankbarkeit und Treue gegenüber der Gerechtigkeit Gottes zeigen, dort „begegnen einander Huld und Treue; Gerechtigkeit und Friede küssen sich» (Ps 85.11 / Original: 84.11). Darüber hinaus liefert die Geschichte des Alten Testaments zahlreiche Beispiele für Untreue und sündhafte Undankbarkeit |des auserwählten Volkes. Für den Propheten Jeremia ist das der Anlaß, auf den ‘Grund der Abwesenheit des Friedens in Israel hinzuweisen, wo stets zu hören sei: „Heil, Heil! Aber kein Heil ist da» (Jer 6.14). Der prophetische Aufruf zur Umkehr «erklingt wie ein Lied der Treue zur Gerechtigkeit Gottes. Ungeachtet der Sünden |des Volkes gibt Gott das Gelübde ab, mit ihm einen „neuen Bund» zu schließen (Jer 31.31).
Gleich wie im Alten Testament wird auch im Neuen Testament der Friede als leine Gabe der Göttlichen Liebe betrachtet. Dieser ist mit dem eschatologischen Heil identisch. Die Zeitlosigkeit des von den Propheten verkündeten Friedens wird mit besonderer Deutlichkeit im Johannesevangelium hervorgehoben. Obwohl in der Geschichte weiterhin Bedrängnis herrscht, sind die an Christus Glaubenden im Frieden (Joh 14.27; 16.33). Der Friede im Neuen Testament stellt den allgemeinen gesegneten Zustand der menschlichen Seele dar, die vom Joch der Sünde befreit ist. Gerade das bedeutet der Wunsch nach „Gnade» und „Frieden» zu Beginn der Briefe des hl. Apostels Paulus. Dieser Friede ist eine Gabe des Heiligen Geistes (Rom 15.13; Gal 5.22). Der Zustand der Versöhnung mit Gott ist der selbstverständliche Zustand der Geschöpfe, „denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern ein Gott des Friedens» (1 Kor 14.33). Psychologisch erscheint dieser Zustand in der inneren Ordnung der Seele, wenn die Freude und der Friede |m Glauben (Rom 15.13) nahezu synonym werden.
Der Friede kennzeichnet — nach der Göttlichen Gnade — das Leben der Kirche nach innen wie nach außen. Zweifellos sind jedoch für die gnadenreiche Gabe des Friedens auch die Bemühungen der Menschen erforderlich. Die Gaben des Heiligen Geistes erscheinen nur dort, wo das menschliche Herz sich öffnet und sich in Reue nach der Wahrheit Gottes sehnt. Das Geschenk des Friedens offenbart sich, wenn die Christen nach dessen Erlangung streben, „unablässig erinnern wir uns (…) an das Werk eures Glaubens, an die Opferbereitschaft eurer Liebe und an die Standhaftigkeit eurer Hoffnung auf Jesus Christus, unseren Herrn» (1 Thess 1.3). Die Friedensbestrebungen eines jeden Glieds des Leibes Christi dürfen keinerlei aus den Zeitumständen oder den Lebensbedingungen folgenden Beschränkungen unterliegen. Gott wohlgefällig (Mt 5.9), bringen sie an jedem Ort und zu jeder Zeit gute Frucht. Friede, als eine den Menschen innerlich verwandelnde Gabe Gottes, soll auch nach außen hin sichtbar werden. Es gilt, ihn zu hegen und immer wieder neu zu entfachen (2 Tim 1.6); angesichts dessen wird die Friedensschaffung zu einer Aufgabe der Kirche Christi: „Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden» (Rom 12.18) und „bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält» (Eph 4.3). Der neutestamentliche Aufruf zu Friedensschaffung beruht auf dem persönlichen Beispiel des Erlösers und Seiner Lehre. Wenn also die Gebote des Nicht-Widerstands gegen das Böse (Mt 5.39), der Liebe zu den Feinden (Mt 5.44) und der Vergebung (Mt 6.14-15) primär an die einzelne Persönlichkeit appellieren, so weist das Gebot der Friedensschaffung — „Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden» (Mt 5.9) — einen unmittelbaren Bezug zur sozialen Ethik auf.
Die Russisch-Orthodoxe Kirche strebt danach, ihren Dienst am Frieden sowohl im staatlichen als auch im internationalen Rahmen zu verwirklichen, indem sie ihre Bemühungen der Lösung der verschiedenen Widersprüche sowie der Harmonie unter den Völkern, den ethnischen Gruppen, den Regierungen sowie den politischen Kräften widmet. Zu diesem Zweck richtet sie ihr Wort an die Machthaber und die anderen einflußreichen Kräfte der Gesellschaft und unternimmt Anstrengungen, Verhandlungen zwischen einander bekämpfenden Seiten zu organisieren sowie den Notleidenden Hilfe zu leisten. Die Kirche widersetzt sich der Kriegs- und Gewaltpropaganda und den verschiedenen Erscheinungsformen des Hasses, die in der Lage sind, brudermordende Konflikte zu provozieren.
IX. Verbrechen, Sühne, Wiedergutmachung
IX.1. Die Christen sind aufgerufen, gesetzestreue Bürger ihres irdischen Vaterlands zu sein, da sie überzeugt sind, daß jede Seele „den Trägern der staatlichen Gewalt Gehorsam» (Rom 13.1) leisten muß, und gleichzeitig den Befehl Christi in Erinnerung behalten: „Dann gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!» (Lk 20.25). Doch zeugt die menschliche Sündigkeit Verbrechen, namentlich die Verletzung der Grenzen, die das Gesetz festgelegt hat. Gleichzeitig ist die Vorstellung von Sünde in den orthodoxen moralischen Normen wesentlich weiter gespannt als das Verständnis von Verbrechen im weltlichen Recht.
Die Hauptquelle der Verbrechen ist der dunkel verworrene Zustand der menschlichen Seele: „Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaussagen und Verleumdungen» (Mt 15.19). Hierbei darf nicht unerwähnt bleiben, daß unter Umständen die ökonomischen und sozialen Bedingungen, die Schwäche der Staatsmacht sowie das Fehlen einer gesetzlichen Ordnung die Kriminalität ebenfalls begünstigen. Kriminelle Gemeinschaften können in staatliche Einrichtungen eindringen, um diese für ihre eigenen Ziele zu mißbrauchen. Darüber hinaus kann auch die Staatsmacht selbst, sobald von ihr rechtswidrige Handlungen ausgehen, zum Verbrecher werden. Besonders gefährlich ist die unter politischen und pseudoreligiösen Motiven verdeckte Kriminalität, wie Terrorismus u.a.
Um die Kriminalität in Schranken zu halten, etabliert der Staat Strafverfolgungsbehörden, deren Ziel die Verhütung, Prävention und Aufklärung von Verbrechen, des weiteren die Bestrafung und Resozialisierung der Personen ist, die sich strafbar gemacht haben. Die Bekämpfung der Kriminalität sowie die Besserung der Straffälligen sind jedoch nicht nur eine bedeutsame Aufgabe der zu diesem Zweck gegründeten Institutionen, nicht einmal ausschließlich des Staates, sondern des ganzen Volkes und folglich auch der Kirche.
IX. 2. Die Verbrechensvorbeugung ist vornehmlich durch Erziehung und Aufklärung möglich, die auf die Durchsetzung der wahren geistigen und moralischen Werte in der Gesellschaft angelegt sind. Hinsichtlich dieser Aufgabe ist die intensive Mitarbeit der Kirche mit der Schule, den Massenmedien sowie den Strafverfolgungsbehörden gefordert. Wenn jedoch im Volk kein positives moralisches Ideal vorhanden ist, können keine Zwangs-, Abschreckungs- oder Strafmaßnahmen den bösen Willen aufhalten. Gerade auf diesem Hintergrund ist die beste Form der Vorbeugung gegen Gesetzesverstöße die Predigt einer ehrlichen und würdigen Lebensführung, insbesondere unter Kindern und Jugendlichen. Dabei ist es notwendig, daß solchen Personen, die zu den sogenannten Risikogruppen gehören oder bereits erste Straftaten begangen haben, große Aufmerksamkeit zuteil wird. Diese Menschen bedürfen in besonderer Weise der pastoralen und erzieherischen Betreuung. Die orthodoxen Geistlichen und Laien sind aufgerufen, sich ebenfalls an der Bekämpfung der sozialen Ursachen der Kriminalität zu beteiligen, indem sie ihren Beitrag zum gerechten Aufbau der Gesellschaft und der Wirtschaft wie auch zur beruflichen und persönlichen Selbstverwirklichung jedes Mitgliedes der Gesellschaft leisten.
Darüber hinaus fordert die Kirche, daß gegenüber den Angeklagten, den Untersuchungshäftlingen sowie denjenigen, die bei einem verbrecherischen Vorhaben ertappt worden sind, ein menschliches Verhältnis gewahrt wird. Eine harte oder unwürdige Behandlung dieser Menschen kann sie in ihrer Absicht bestärken, auf dem falschen Weg zu bleiben bzw. sie erst auf Abwege bringen. Deswegen dürfen Menschen, die noch nicht kraft richterlichen Spruchs verurteilt sind, die Bürgerrechte nicht entzogen werden, selbst wenn sie bereits in Haft genommen worden sind. Das Recht auf Verteidigung sowie auf unparteiische Richter soll ihnen gewährleistet werden. Die Kirche verurteilt Folterungen und jedwede Form von Demütigung der Untersuchungshäftlinge. Der Geistliche darf selbst in der Absicht, die Justizorgane zu unterstützen, weder das Beichtgeheimnis noch andere gesetzlich geschützte Geheimnisse verletzen (beispielsweise das Adoptionsgeheimnis). Statt dessen lassen sich die Priester in der Seelsorge für die Verirrten und Verurteilten von der Verschwiegenheitspflicht leiten, sollten ihnen in der Beichte Fakten bekannt werden, die der Untersuchungsbehörde oder dem Gericht unbekannt sind.
Die Norm, die den Schutz des Beichtgeheimnisses festlegt, ist Bestandteil der Gesetzgebung einer großen Anzahl gegenwärtiger Staaten, einschließlich der Verfassung der Russischen Föderation sowie des russischen Gesetzes „Über die Freiheit des Gewissens und der religiösen Vereinigungen».
Der Geistliche ist zu besonderer seelsorglicher Wachsamkeit gefordert, sollte er während der Beichte von einer verbrecherischen Absicht in Kenntnis gesetzt werden. Ausnahmslos und unter allen Umständen das Beichtgeheimnis heilig haltend, ist der Priester gleichzeitig verpflichtet, alle ihm nur möglichen Anstrengungen zu unternehmen, um die Realisierung der verbrecherischen Absicht zu verhindern. Dies betrifft in erster Linie die Gefahr eines Totschlags, insbesondere eines Massenmordes, der bei einem Terrorakt oder der Ausführung eines verbrecherischen Befehls in Kriegszeiten zu erwarten wäre. Ohne die Gleichrangigkeit der Würde des potentiellen Verbrechers wie des von ihm ins Visier genommenen Opfers aus dem Blick zu verlieren, muß der Priester den Beichtenden zu wahrhaftiger Reue auffordern, mit anderen Worten: zur Abkehr von der bösen Absicht. Sollte diese Aufforderung erfolglos bleiben, ist der Priester berechtigt, die sich in Lebensgefahr Befindenden zu warnen, wobei er aber das Geheimnis des Namens des Beichtenden und andere Umstände, die dessen Persönlichkeit zu enthüllen vermögen, schützt. In schwerwiegenden Fällen hat sich der Priester an den Erzbischof zu wenden.
IX.3. Ein verübtes und kraft Gesetz verurteiltes Verbrechen setzt auch eine gerechte Strafe voraus. Ihr Sinn besteht in der Besserung des straffällig gewordenen Menschen, im Schutz der Gesellschaft vor dem Täter und in der Unterbindung seiner rechtswidrigen Handlungen. Ohne über den Delinquenten zu urteilen, ist die Kirche berufen, für seine Seele Sorge zu tragen. Dies bedenkend, faßt sie die Strafe nicht als Rache, sondern als Mittel zur inneren Läuterung des Sündigen auf.
Der Schöpfer, der eine Bestrafung der Missetäter verfügte, sprach zu Israel: ,Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen» (Dtn 21.21). Die Bestrafung des Vergehens dient der Belehrung der Menschen. Indem er die Strafe für falsche Prophetie festlegte, sprach Gott zu Moses: „Ganz Israel soll davon hören, damit sie sich fürchten und nicht noch einmal einen solchen Frevel in deiner Mitte Degehen» (Dtn 13.12 / Original: 13.11). In den Sprüchen Salomos ist zu lesen: „Schlägst du den Zuchtlosen, so wird der Unerfahrene klug; weist man den Unverständigen zurecht, gewinnt er Einsicht» (Spr 19.25). Die alttestamentliche Tradition kennt mehrere Arten von Strafen: Todesstrafe, Verbannung, Freiheitsstrafe, Züchtigung, Geldstrafe oder die Anordnung, ein Opfer zu religiösen Zwecken darzubringen.
Die Haft, die Verbannung (Exil), die Zwangsarbeit als Maßregel der Besserung sowie die Geldstrafe sind in ihrer Eigenschaft als Strafen auch in der gegenwärtigen Welt erhaltengeblieben. Alle diese Aspekte der juristischen Ahndung sind nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Gesellschaft vor dem bösen Willen des Täters zu begreifen, sondern sie sollen auch erzieherisch wirken. Der Freiheitsentzug oder die Freiheitsbeschränkung versetzen den Menschen, der sich selbst jenseits der Gesellschaft gestellt hat, in die Möglichkeit, das eigene Leben einer Revision zu unterziehen, um innerlich geläutert zur Freiheit zurückzukehren. Die Arbeit trägt zur Erziehung der Persönlichkeit in schöpferischem Geiste bei und ist ein Mittel zur Kultivierung nützlicher Gewohnheiten. Im Verlauf der Besserungsarbeit soll die Gewalt der Sünde in der Tiefe der Seele der Kreativität, der Ordnung sowie dem seelischen Frieden weichen. Zugleich ist es vonnöten, daß mit den Personen im Strafvollzug nicht in einer unmenschlichen Weise umgegangen wird, und daß die Haftbedingungen die Erhaltung ihres Lebens und ihrer Gesundheit zulassen, während ihr moralischer Zustand dem verderblichen Einfluß anderer Inhaftierter entzogen bleibt. Mit Blick darauf soll der Staat für die Inhaftierten Sorge tragen, wobei er sich hier der Unterstützung seitens der Gesellschaft und der Kirche jederzeit sicher sein muß.
Das Christentum hat für sein humanes Verhältnis zu den Gefangenen um ihrer Besserung willen eine tiefreichende Begründung. Der Herr Jesus Christus vergleicht die Wohltaten gegenüber den Gefangenen mit dem Dienst an Sich Selbst: „ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen» (Mt 25.36). Die Geschichte liefert zahlreiche Beispiele der Hilfe für Menschen, die eine Freiheitsstrafe abbüßen, seitens der heiligen Gottesgerechten. Die russische orthodoxe Tradition hat unablässig Nachsicht für die Gefallenen gefordert. Der hl. Innozenz, Erzbischof von Cherson, wandte sich an die Inhaftierten in der Gefängniskirche zu Vologda mit folgenden Worten: „Nicht als Ankläger sind wir hierher gekommen, sondern um euch Trost und Belehrung zu spenden. Wie ihr selbst seht, geht die Kirche mit allen ihren Sakramenten auf euch zu, deshalb wendet euch nicht von ihr ab, nähert euch ihr durch den Glauben, die Reue und die Besserung eurer Sitten (…). Der Erlöser streckt auch jetzt seine Hände vom Kreuz nach allen Reuigen aus, deshalb seid auch ihr reuig und geht vom Tod in das Leben über!»
In Wahrnehmung ihres Dienstes in den Strafvollzugsanstalten muß die Kirche dort Kapellen und Gebetsräume einrichten, die Sakramente verwalten und den Gottesdienst feiern, pastorale Gespräche mit den Gefangenen führen sowie geistige Literatur verbreiten. Besonders wichtig dabei ist der persönliche Kontakt mit den Gefängnisinsassen, der den Besuch an den Orten ihres unmittelbaren Aufenthalts miteinschließt. Der Schriftverkehr mit den Angeklagten, die Sammlung und Übergabe von Kleidungsstücken, Medikamenten sowie weiteren, dringend notwendigen Gegenständen soll in jeder Hinsicht gefördert werden. Eine solche Tätigkeit soll nicht nur der Erleichterung des schweren Schicksals der Strafgefangenen dienen, sondern auch eine Hilfe bei der moralischen Genesung der verkümmerten Seelen sein. Ihr Leid ist auch ein Leid der ganzen Mutter Kirche, die selbst „über einen einzigen Sünder, der umkehrt» (Lk 15.10) von himmlischer Freude erfüllt ist. Die Wiedereinführung der Gefangenen-seelsorge wird zu einem der wichtigsten Gebiete priesterlicher und missionarischer Tätigkeit und bedarf der Unterstützung und Entwicklung.
Eine besondere Strafmaßnahme, die Todesstrafe, wurde im Alten Testament als gültig anerkannt. Weder die Heilige Schrift des Neuen Testaments noch die Überlieferungen noch das historische Erbe der Orthodoxen Kirche enthalten Hinweise auf die Notwendigkeit ihrer Abschaffung. Dessen ungeachtet hat die Kirche häufig die Pflicht übernommen, vor der weltlichen Macht gegen ein Todesurteil aufzutreten und um Gnade und Strafmilderung für die Verurteilten zu ersuchen. Mehr noch: der moralische Einfluß des Christentums hat im Bewußtsein der Menschen eine negative Haltung in Bezug auf die Todesstrafe kultiviert. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Revolution von 1905 wurde sie in Rußland äußerst selten praktiziert. Für das orthodoxe Bewußtsein endet das Leben nicht mit dem leiblichen Tod, weswegen auch die Kirche von der Seelsorge für die zur Höchststrafe Verurteilten nicht abläßt.
Die Abschaffung der Todesstrafe würde neue Möglichkeiten für die seelsorgliche Arbeit mit den Straffälligen sowie deren eigene Arbeit an ihrer Umkehr eröffnen. Dabei liegt es auf der Hand, daß die Todesstrafe keine erzieherische Wirkung haben kann, ein Fehlurteil irreversibel macht und widersprüchliche Gefühle in der Bevölkerung auslöst. Heutzutage haben viele Staaten die Todesstrafe durch Gesetz abgeschafft oder wenden sie in der Praxis nicht mehr an. Indem die Kirche bedenkt, daß die Gnade gegenüber dem abtrünnigen Menschen in allen Fällen der Rache vorzuziehen ist, begrüßt die Kirche einen solchen Schritt seitens der Staatsgewalten. Gleichzeitig räumt sie ein, daß die Frage der Abschaffung bzw. Nichtanwendung der Todesstrafe Gegenstand einer freien Entscheidung des Volkes sein muß, das sich — unter Berücksichtigung des Umfangs der Kriminalität sowie des Zustands des rechtsprechenden wie des vollziehenden Justizsystems — in erster Linie jedoch von Erwägungen über die Sicherheit des Lebens der gesetzestreuen Mitglieder der Gesellschaft leiten läßt.
IX.4. In ihrem Wunsch, bei der Verbrechensbekämpfung behilflich zu sein, arbeitet die Kirche mit den Institutionen der Strafverfolgung zusammen. Den Mitarbeitern des Strafvollzugs, die zum Schutz der Bürger und des Vaterlands vor verbrecherischen Angriffen und zur Besserung der Straffälligen tätig sind, steht die Kirche zur Seite. Eine solche Hilfe kann durch verschiedene gemeinsame, auf Verbrechensvorbeugung gerichtete Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen sowie durch sonstige wissenschaftliche und kulturelle Tätigkeit geleistet werden, des weiteren durch religiöse Betreuung der Mitarbeiter der Justiz selbst. Die Zusammenarbeit zwischen der Kirche und dem Strafvollzugsystem beruht auf kirchlichen Bestimmungen wie auch auf besonderen Abkommen mit den Vertretern der entsprechenden Behörden.
Jedoch die größte Bedeutung bei der Verbrechensbekämpfung soll der kirchlichen Seelsorge zufallen, insbesondere dem Bußsakrament. Der Priester soll jedem, der eine Missetat bereut, nachdrücklich anbieten — als unbedingte Voraussetzung für die Vergebung der Sünde — im Angesicht Gottes der Fortsetzung seines verbrecherischen Tuns abzuschwören. Einzig auf diese Weise kann der Mensch veranlaßt werden, den Weg der Gesetzlosigkeit zu verlassen und zu einem tugendhaften Leben zurückzukehren.
X. Fragen der persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Sittlichkeit
X.1. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist eine besondere Gabe des Schöpfers an die von Ihm geschaffenen Menschen: „Gott also schuf den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie» (Gen 1.27). Mann und Frau sind in ihrer Gottebenbildlichkeit und menschlichen Würde gleichwertig geschaffen um der vollkommenen Vereinigung miteinander in der Liebe willen: „Darum verläßt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch» (Gen 2.24). Die Seinen Segen empfangende eheliche Gemeinschaft, die den ursprünglichen Schöpferwillen Gottes verkörpert, wird zum Mittel der Bewahrung und Mehrung des menschlichen Geschlechts: „Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar, und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch» (Gen 1.28). Die Besonderheiten der Geschlechter erschöpfen sich nicht in den körperlichen Unterschieden. Der Mann und die Frau stellen zwei verschiedene Daseinsformen der einen Menschheit dar. Beide bedürfen der Gemeinschaft miteinander sowie der gegenseitigen Ergänzung. In der gefallenen Welt können jedoch die Beziehungen zwischen den Geschlechtern eine widernatürliche Verkehrung erfahren, falls sie aufhören, Ausdruck Gottgegebener Liebe zu sein und zu einer Form der sündhaften Ich-Bezogenheit des gefallenen Menschen ausarten. In Hochschätzung des Opfers der freiwilligen keuschen Ehelosigkeit, das um Christi und des Evangeliums willen angenommen wird, sowie unter Anerkennung der in ihrer Geschichte wie in ihrem heutigen Leben besonderen Rolle des Mönchtums, hat die Kirche gegenüber der Ehe niemals Verachtung gehegt und stets diejenigen verurteilt, die aus einem falsch verstandenen Streben nach Reinheit die ehelichen Beziehungen verabscheut haben.
Der Apostel Paulus, der für sich die persönliche Wahl zugunsten der Keusch^ heit traf und das Volk aufrief, ihm nachzueifern (1 Kor 7.8), verurteilt dessen ungeachtet die „heuchlerischen Lügner, deren Gewissen gebrandmarkt ist. Sie verbieten die Heirat» (1 Tim 4.2-3). Die 51. Apostolische Regel lautet: „Wer (…) der Ehe fernbleibt (…) nicht um des Opfers der Enthaltsamkeit willen, sondern aus Gründen der Verabscheuung und gleichsam vergißt, (…) daß alles, was Gott gemacht hat, sehr gut ist, und daß Er den Menschen als Mann und Frau geschaffen hat, und auf diese Weise die Schöpfung verhöhnt und verschmäht, soll entweder gebessert werden oder das ihm gespendete Sakrament verlieren, oder über ihn soll der Kirchenbann verhängt werden.» Die Regeln Nr. 1, 9 und 10 des Konzils von Gangr führen das aus: „Wer die Ehe tadelt oder eine fromme und rechtschaffene Frau, die ihrem Mann beischläft, verachtet oder sie verschmähend j behauptet, sie könne in das Reich (Gottes) nicht eingehen, sei verflucht. Wer keusch lebt oder sich enthält, indem er der Ehe aus Verabscheuung und nicht um der Schönheit und der Heiligkeit der Jungfräulichkeit willen fernbleibt, sei verflucht. Wer sich seiner Keuschheit im Namen des Herrn vor den Verehelichten rühmt, sei verflucht.» Der Heilige Synod der Russisch-Orthodoxen Kirche hat in seinem Beschlußpapier vom 28.12.1998 unter Bezugnahme auf diese Regeln die „Unzulässigkeit einer abwertenden oder verächtlichen Haltung gegenüber der Ehe» betont.
X.2. Nach dem römischen Recht, das den bürgerlichen Gesetzbüchern der Mehrheit der gegenwärtigen Staaten zugrunde liegt, ist die Ehe eine zwischen zwei Seiten freiwillig gewählte Verbindung. Nach eingehender, auf dem Zeugnis der Heiligen Schrift beruhender Erwägung hat sich die Kirche diese Definition zu eigen gemacht. Der römische Rechtsgelehrte Modestin (3. Jh.) hat folgende Definition der Ehe vorgelegt: „Die Ehe ist eine Gemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau, eine Lebensgemeinschaft, eine gemeinsame Teilhabe am göttlichen und menschlichen Recht.» Diese Definition hat nahezu unverändert Eingang in die kanonischen Sammlungen der Orthodoxen Kirche gefunden, insbesondere in den „Nomokanon» des Patriarchen Photios (9. Jh.), in das „Sintagma» von Matthaeus Vlastar (14. Jh.) sowie in den „Prochiron» von Basilius l. von Mazedonien (9. Jh.), die im slawischen „Kormcaja Kniga» enthalten sind. Die frühchristlichen Kirchenfväter und -lehrer gingen ebenfalls von den römischen Ehevorstellungen aus. In f seiner Apologie an den Kaiser Mark Aurel (2. Jh.) schreibt Athenagoras: „Jeder von uns betrachtet die Frau, mit der er gesetzlich verheiratet ist, als seine Gattin.» Die „Apostolischen Bestimmungen», eine Sammlung aus dem 4. Jahrhundert, belehren die Christen, „nur in Übereinstimmung mit dem Gesetz eine Ehe zu schließen». Das Christentum hat die heidnischen und alttestamentlichen Vorstellungen von der Ehe gesteigert durch den erhabenen Bund Christi mit der Kirche: „Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn (Christus); denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Kirche ist; er hat sie gerettet, denn sie ist sein Leib. Wie aber die Kirche sich Christus unterordnet, sollen sich die Frauen in allem den Männern unterordnen. Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat, um sie im Wasser und durch das Wort rein und heilig zu machen. So will er die Kirche herrlich vor sich erscheinen lassen, ohne Flecken, Falten oder andere Fehler; heilig soll sie sein und makellos. Darum sind die Männer verpflichtet, ihre Frauen so zu lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst. Keiner hat je seinen eigenen Leib gehaßt, sondern er nährt und pflegt ihn, wie auch Christus die Kirche. Denn wir sind Glieder seines Leibes. Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein. Dies ist ein tiefes Geheimnis; ich beziehe es auf Christus und die Kirche. Was euch angeht, so liebe jeder von euch seine Frau wie sich selbst, die Frau aber ehre den Mann» (Eph 5.22-33).
Für die Christen ist die Ehe nicht nur zu einem bloßen juristischen Vertrag, einem Mittel der Fortpflanzung und der Befriedigung zeitlicher natürlicher Bedürfnisse geworden, sondern, wie der hl. Hierarch Johannes Chrysostomus sagt, zu einem „Mysterium der Liebe», der Vereinigung der Eheleute in Christus auf Ewigkeit. Von Anfang an wurde die christliche Ehe durch den Segen der Kirche sowie die gemeinsame Teilnahme an der Eucharistie besiegelt, was auch die älteste Form der sakramentalen Trauung war. ,,Diejenigen, die sich verehelichen, sollen die familiäre Gemeinschaft mit Zustimmung des Bischofs eingehen, damit die Ehe im Herrn und nicht für die Befriedigung der Begierde geschlossen werde», schrieb der hl. Märtyrer Ignatius von Antiochien. Nach Tertullian wird die Ehe, „die von der Kirche gesegnet und durch die Opfergabe (Eucharistie) bestätigt wird, durch den Segen besiegelt und durch die Engel im Himmel geschlossen». „Es sollen die Priester aufgefordert werden, durch Gebet und Segen die Eheleute in ihrem gemeinsamen Leben zu bestärken, auf daß (…) diese ihr Leben in Freude und gegenseitiger Verbundenheit mit der Hilfe Gottes führen», sprach der hl. Johannes Chrysostomus. Der hl. Ambrosius von Mailand wies darauf hin, daß „die Ehe durch die Fürbitte und den priesterlichen Segen geweiht sein muß».
Zur Zeit der Christianisierung des Römischen Reichs wurde die Legalität der Ehe weiterhin durch die zivilrechtliche Eintragung gewährleistet. Neben der Konsekration des Ehebundes durch Gebet und Segen erkannte die Kirche auch in Fällen, in denen eine kirchliche Heirat nicht möglich gewesen war, dennoch die Gültigkeit der standesamtlich geschlossenen Ehe an und ließ die Eheleute zum heiligen Abendmahl zu. Diese Praxis ist bis in die Gegenwart hinein für die Russisch-Orthodoxe Kirche verbindlich. In diesem Zusammenhang kann sie eheliche Verbindungen jedoch weder gutheißen noch einsegnen, die — ungeachtet ihrer nach geltendem bürgerlichem Recht vollzogenen Schließung — kirchenrechtlichen Vorschriften nicht entsprechen (beispielsweise vierte und weitere Ehen sowie Ehen innerhalb eines unzulässigen Grads der Bluts- oder Geistes verwandtschaft).
Der 74. Novelle Justinianos’ (538) zufolge kann eine gültige Ehe sowohl durch einen Ekdikos (Kirchennotar) als auch durch einen Priester geschlossen werden. Eine ähnliche Regel war ebenfalls in der Ekloge des Kaisers Leo III. und dessen; Sohn Konstantin V. (740) enthalten, desgleichen im Gesetz Basilius’ I. (879). Die wichtigste Vorbedingung für die Ehe war nach wie vor das gegenseitige, in Anwesenheit von Zeugen bestätigte Einverständnis zwischen dem Mann und der Frau. Gegen diese Praxis wurden seitens der Kirche keine Einwände erhoben. Erst im Jahre 893 wurden die freien Bürger nach der 89. Novelle Leos VI. verpflichtet, die Ehe nach kirchlichem Recht zu schließen; und 1095 wurde der Geltungsbereich der Regel durch Kaiser Alexios Komnenos auch auf die Sklaven ausgeweitet Die Einführung der obligatorischen Eheschließung nach Kirchenrecht (9.-11. Jh.) bedeutete, daß laut Beschluß der Staatsgewalt die gesamte juristische Regelung der ehelichen Beziehungen ausschließlich unter kirchliche Jurisdiktion gestellt wurde. Dessen ungeachtet darf die allgemeine Anwendung dieser Praxis nicht als die Einführung des Ehesakraments verstanden werden, welches in der Kirche schon seit unvordenklichen Zeiten existiert hatte.
Die in Byzanz eingeführte Ordnung wurde auch von Rußland im Hinblick auf die Anhänger des orthodoxen Glaubensbekenntnisses übernommen. Mit dem Erlaß des Dekrets über die Trennung von Kirche und Staat (1918) wurde jedoch . die Eheschließung gemäß Kirchenrecht für nichtig erklärt, während den Gläubigen formell das Recht zugestanden wurde, im Anschluß an die Eheschließung vor dem zuständigen Standesamt zusätzlich den kirchlichen Segen zu empfangen. Nichtsdestoweniger blieb im Laufe eines längeren Zeitraums, in dem die Kirche staatlicher Verfolgung ausgesetzt war, die feierliche Eheschließung in der Kirche grundsätzlich äußerst schwierig und gefährlich.
Der Heilige Synod der Russisch-Orthodoxen Kirche vom 28.12.1998 stellte mit Bedauern fest, daß „einige Geistliche die bürgerliche Ehe für ungesetzlich erklären oder die Auflösung der Ehe zwischen Eheleuten fordern, die im Laufe vieler Jahre ein gemeinsames Leben geführt, unter dem Druck gewisser Umstände jedoch eine kirchliche Trauung nicht vorgenommen haben (…). Einige Geistliche lassen Personen, die innerhalb einer ‚nicht getrauten’ Ehe leben, zur Kommunion nicht zu, indem sie eine solche Ehe mit Unzucht gleichsetzen.» In der von dem Synod verabschiedeten Erklärung heißt es: „Indem wir die Notwendigkeit der kirchlichen Trauung nachdrücklich betonen, erinnern wir die Seelsorger daran, daß die Orthodoxe Kirche sich mit Achtung gegenüber der bürgerlichen Ehe verhält.»
Der Treuebund zwischen den Eheleuten als Glieder des Leibes Christi bildet die wichtigste Voraussetzung für die wahre christliche und kirchliche Ehe. Einzig die in einem Glauben vereinte Familie kann zur „Gemeinde (…) in ihrem Haus» (Rom 16.5, Phlm 1.2) werden, in der Mann und Frau gemeinsam mit den Kindern in geistiger Vervollkommnung und Erkenntnis Gottes aufwachsen. Der Mangel an Eintracht birgt eine ernsthafte Gefahr für die Einheit des Ehebundes in sich. Aus diesem Grund hält es die Kirche für ihre Pflicht, in die Gläubigen zu dringen, eine Ehe „nur im Herrn» (1 Kor 7.39) einzugehen, mithin mit solchen, die ihre christlichen Überzeugungen teilen.
Die oben erwähnte Anordnung des Heiligen Synods beinhaltet ebenfalls die Achtung der Kirche „vor solchen Ehen, in denen lediglich eine Seite den ortho doxen Glauben vertritt, den Worten des hl. Apostels Paulus zufolge: .Denn der ungläubige Mann ist durch die Frau geheiligt, und die ungläubige Frau ist durch ihren Mann geheiligt’ (1 Kor 7.14).» Auf diese Textstelle beriefen sich auch die Väter des Trullanischen Konzils, die die Verbindung zwischen Personen für gültig erklärten, welche, „selbst wenn sie sich noch im Unglauben befinden und zur Herde der Orthodoxen nicht gezählt werden, eine rechtmäßige Ehe geschlossen haben», wenn einer der Ehegatten nachträglich zum Glauben übertritt (Regel Nr. 72). Trotzdem wird in dieser Regel sowie in weiteren kanonischen Bestimmungen (4. Ök. Konzil 14, Laod. 10, 31), ferner auch in den Werken der klassischen christ lichen Schriftsteller und Kirchenväter (Tertullian, der hl. Cyprianus von Karthago, der hl. Theodor und der hl. Augustinus) die Eheschließung zwischen Orthodoxen und Anhängern anderer religiöser Traditionen untersagt
Gemäß den klassischen kanonischen Vorschriften segnet die Kirche Ehen zwischen Orthodoxen und Nichtchristen auch heute nicht ein, auch wenn sie diese gleichzeitig als gesetzlich anerkennt und die sich in ihr befindenden Eheleute nicht als Unzucht treibend erachtet. Aus Gründen pastoraler „Oikonomia» sieht die Russisch-Orthodoxe Kirche die Ehe zwischen orthodoxen Christen einerseits sowie Katholiken, Angehörigen der Alten Östlichen Kirchen und Protestanten andererseits, die sich zum Glauben an die Dreieinigkeit Gottes bekennen, nach wie vor als möglich an, wenn diese den Segen von der Orthodoxen Kirche empfangen und den Kindern eine Erziehung im Geiste des orthodoxen Glaubens zuteil werden lassen. In den letzten Jahrhunderten haben sich die Orthodoxen Kirchen mehrheitlich von dieser Praxis leiten lassen.
Mit einem Erlaß des Heiligen Synods vom 23.06.1721 wurde den schwedischer! Gefangenen in Sibirien die Erlaubnis erteilt, unter den oben genannten Bedingungen der Eheschließung sich mit orthodoxen Bräuten zu vermählen. Am 18. August des gleichen Jahres erhielt diese Entscheidung des Synods eine detaillierte biblische und theologische Untermauerung in einer eigens dazu entworfenen Synodalen Botschaft. Unter Bezugnahme auf diese Botschaft wurden auch später Fragen im Zusammenhang mit Mischehen in den eingegliederten polnischen sowie finnischen Gouvernements vom Heiligen Synod einer Lösung zugeführtj (Erlasse des Heiligen Synods von 1803 und 1811). In diesen Gebieten wurde unter! anderem eine größere Freiheit bei der Entscheidung über die Religionszugehörigkeit der Kinder zugelassen (eine Zeitlang war diese Praxis auch Bestandteil der Gesetzgebung der baltischen Republiken). Die für das gesamte Territorium des Russischen Reichs geltenden Bestimmungen über Mischehen wurden endgültig in der Satzung der geistigen Konsistorien (1883) formuliert. Zahlreiche dynastische Eheschließungen boten ein Exempel für Mischehen, bei welchen der Übertritt der nichtorthodoxen Seite zur Orthodoxie nicht obligatorisch war (ausgenommen die Ehe des Russischen Thronnachfolgers). So vermählte sich die hl. Märtyrerin, die Großfürstin Elisabeth mit dem Großfürsten Sergej Alexandrovic, ohne aus der Evangelisch-Lutherischen Kirche auszutreten; sie trat erst später, nach eigener Willensbekundung, zur Orthodoxie über.
X.3. Die Kirche besteht auf der lebenslangen Treue der Ehegatten sowie der Unauflösbarkeit der orthodoxen Ehe, hierbei die Worte des Herrn Jesus Christus anführend: „Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen. (…) Wer seine Frau entläßt, obwohl kein Fall von Unzucht vorliegt, und eine andere heiratet, der begeht Ehebruch» (Mt 19.6, 9). Die Ehescheidung wird von der Kirche als Sünde verurteilt, da sie sowohl den Ehegatten (zumindest einem von ihnen) als auch — und vor allem — den Kindern schweres seelisches Leid zufügt. Anlaß zu tiefster Sorge liefert die gegenwärtige Lage, in der ein beträchtlicher Teil der Ehen aufgelöst wird, in erster Linie unter jungen Menschen. Diese Situation ist eine wahrhafte Tragödie für die einzelne Persönlichkeit und das gesamte Volk.
Den einzigen, durch den Herrn zugelassenen Grund für eine Ehescheidung stellt der Ehebruch dar, welcher die Ehe entweiht und das Band ehelicher Treue aufhebt. In den Fällen der verschiedenen Konflikte zwischen den Eheleuten sieht die Kirche ihre pastorale Aufgabe darin, unter Einsatz aller in ihrer Macht stehenden Mittel (Belehrung, Gebet, Teilnahme an den Sakramenten) die Einheit der Ehe zu bewahren und eine Scheidung zu verhindern. Die Geistlichen sind außerdem aufgerufen, Gespräche mit dem Brautpaar zu führen und ihnen die Wichtigkeit und Verantwortung des ihnen bevorstehenden Schrittes nahezubringen. Bedauerlicherweise kommt es bisweilen vor, daß sich die Ehegatten aufgrund ihrer sündhaften Unvollkommenheit als unfähig erweisen, die gnadenreiche Gabe zu bewahren, die sie im Ehesakrament empfangen haben, und die Einheit der Familie aufrecht zu erhalten. Die Kirche, die das Heil der Sünder will, gibt ihnen die Möglichkeit der Besserung und ist bereit, ihnen nach einer Buße wieder die Sakramente zu spenden.
Die Gesetze von Byzanz, die von den christlichen Kaisern erlassen wurden und keine Mißbilligung seitens der Kirche erfuhren, nannten verschiedene Scheidungsgründe. Im Russischen Reich wurde die Auflösung der Ehe auf der Grundlage der geltenden Gesetze durch ein kirchliches Gericht vorgenommen.
Im Jahre 1918 hat das Landeskonzil der Russisch-Orthodoxen Kirche in der „Erklärung über die Gründe zur Auflösung des von der Kirche gesegneten Ehebundes» neben der Unzucht sowie dem Eingehen einer neuen Ehegemeinschaft durch eine der beiden Seiten als weitere Eheaufhebungsgründe anerkannt: den Abfall eines der Ehegatten von der Orthodoxie, widernatürliche Laster, die — vor der Eheschließung oder infolge bewußter Selbstverstümmelung aufgetretene — Unfähigkeit zur ehelichen Gemeinschaft, Lepraoder Syphiliserkrankung, langanhaltende Abwesenheit ohne Nachricht, Verurteilung zu einer Strafe, die den Entzug aller Bürgerrechte vorsieht, Angriff auf das Leben oder die Gesundheit des Ehepartners oder der Kinder, Unzucht mit Verwandten, Kuppelei, Ausbeutung einer Zwangslage des Ehegatten, unheilbare, schwere seelische Krankheit sowie das böswillige Verlassen des einen Ehepartners durch den anderen. Gegenwärtig wird diese Aufzählung von Eheaufhebungsgründen erweitert durch Gründe wie Erkrankung an Aids, ärztlich bescheinigte chronische Trunk- oder Drogensucht wie auch die Durchführung einer Abtreibung durch die Frau ohne Einwilligung des Mannes.
Mit Ziel der geistigen Erziehung der Eheschließenden sowie der Festigung der Ehebande ist der Priester dazu angehalten, in einem der Trauung vorausgehenden Gespräch dem Bräutigam und der Braut darzulegen, daß die von der Kirche geschlossene Ehe unauflöslich ist; er soll nachdrücklich Gewicht darauf legen, daß die Scheidung als äußerste Maßnahme lediglich in solchen Fällen in Frage kommen kann, in denen einer der Ehegatten Handlungen vorgenommen hat, die aus der Sicht der Kirche hinreichender Grund für die Ehescheidung sind. Die Zustimmung zur Auflösung der nach Kirchenrecht geschlossenen Ehe darf nicht zum Zweck der Lustbefriedigung sowie der „Bestätigung» einer bürgerlichrecht lichen Scheidung erteilt werden. Wenn jedoch die Ehescheidung bereits eine vollendete Tatsache, insbesondere bei getrennt lebenden Eheleuten, ist, und wenn die Wiederherstellung der Familie nicht möglich erscheint, kann die Ehe aus pastoraler Nachsicht auch nach kirchlichem Recht annulliert werden. Die Kirche unterstützt in keiner Weise zweite Ehen. Gleichwohl darf der schuldlose Ehe gatte gemäß kanonischem Recht nach der legalen kirchlichen Ehescheidung eine zweite Ehe eingehen. Personen, deren erste Ehe aufgrund eigenen Verschuldens gescheitert ist und aufgelöst wurde, dürfen nur dann in eine zweite Ehe eintreten, wenn sie reuig sind und nach kanonischen Regeln auferlegte Kirchenbuße tun. In den außerordentlichen Fällen, in denen eine dritte Ehe zugelassen werden kann, wird die Frist der Epitimie nach den Regeln des hl. Basilius des Großen verlängert.
Der Heilige Synod der Russisch-Orthodoxen Kirche hat in der Erklärung vomT 28.12.1998 die Handlungen derjenigen Geistlichen verurteilt, die „ihren geistlichen Kindern die Zustimmung zu einer zweiten Ehe unter Verweis auf eine vermeintliche Verurteilung durch die Kirche versagen oder den Ehepaaren die Scheidung in Fällen verweigern, in denen das Eheleben für beide Ehegatten nicht mehr zumutbar ist». Der Heilige Synod hat dabei verfügt, „daß die Seelsorger darauf bedacht sein müssen, daß die Orthodoxe Kirche sich in ihrem Verhältnis zu der zweiten Ehe von den Worten des Apostels Paulus leiten läßt: „Bist du an eine — Frau gebunden, suche dich nicht zu lösen; bist du ohne Frau, dann suche keine. Heiratest du aber, so sündigst du nicht; und heiratet eine Jungfrau, so sündigt auch sie nicht. (…) Eine Frau ist gebunden, solange ihr Mann lebt; wenn aber der Mann gestorben ist, ist sie frei zu heiraten wen sie will; nur geschehe es im Herrn» (1Kor 7.27-28, 39).
X.4. Die besondere innige Nähe zwischen der Familie und der Kirche wird unter anderem dadurch sichtbar, daß in der Heiligen Schrift Christus von Sich als dem Bräutigam spricht (Mt 9.15, 25.1-13; Lk 12.35-36) und die Kirche als Seine Frau und Braut dargestellt wird (Eph 5.24; Offb 21.9). In ähnlicher Weise bezeichnet Klemens von Alexandrien die Familie als eine Kirche und als Gotteshaus, während der hl. Hierarch Johannes Chrysostomus die Familie „Kirche im Kleinen» nennt. „Des weiteren sage ich,» schreibt der heilige Kirchenvater, „daß die Ehe ein sakramentales Abbild der Kirche ist». Die Hausgemeinde wird gebildet von Mann und Frau, die einander lieben, die in der Ehe sowie in der Sehnsucht nach Christus vereint sind. Die Frucht ihrer Liebe und Gemeinschaft sind die Kinder, deren Geburt und Erziehung nach orthodoxer Lehre eines der vorrangigen Ziele der Ehe ist.
„Kinder sind eine Gabe des Herrn, die Frucht des Leibes ist sein Geschenk» (Ps 127.3 / Original: 126.3), ruft der Psalmist. Der Apostel Paulus sprach in seiner Lehre von der rettenden Natur des Gebarens (1 Tim 2.15 / Original: 1 Tim 2.13). Er war es, der auch die Väter aufrief: „Ihr Väter, reizt eure Kinder nicht zum Zorn, sondern erzieht sie in der Zucht und Weisung des Herrn» (Eph 6.4). „Die Kinder (sind keine zufällige Gegebenheit, wir tragen die Verantwortung für ihr Heil (…). Keine Freude über seine Kinder zu empfinden ist die größte aller Sünden, die zu höchster Würdelosigkeit führt (…). Die Verderbtheit unserer Kinder wäre dann durch nichts zu rechtfertigen», warnt Johannes Chrysostomus. Der hl. Gerechte Ephraim der Syrer lehrt: „Selig, wer seine Kinder großzieht in Frömmigkeit.» „Der wahre Vater ist nicht der leibliche, sondern der, der richtig erzogen und gelehrt hat», schreibt der hl. Hierarch Tichon von Zadonsk. „Die Erziehung der Kinder liegt einzig in der Verantwortung der Eltern, und die Schuld an ihrer schlechten Erziehung fällt einzig auf diese und auf niemand anders», predigte der hl. Märtyrer Vladimir, Metropolit von Kiew. „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt» (Ex 20.12), lautet das fünfte Gebot. Im Alten Testament wurde die Nichterweisung von Achtung gegenüber den Eltern als das schwerste Vergehen betrachtet (Ex 21.15, 17; Spr 20.20, 30.17). Das Neue Testament lehrt die Kinder liebevollen Gehorsam gegen die Eltern: „Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern in allem, denn so ist es gut und recht im Herrn» (Kol 3.20).
Die Familie als Hauskirche ist ein ganzheitlicher Organismus, dessen Glieder auf der Grundlage des Liebesgebots leben und so ihre Beziehungen zueinander gestalten. Die Erfahrung der familiären Gemeinschaft lehrt den Menschen die Überwindung des sündhaften Egoismus und legt den Grundstein für ein dauerhaftes Bürgerbewußtsein. Namentlich in der Familie, als der Schule der Rechtschaffenheit, entfaltet und festigt sich das rechte Verhältnis zum Nächsten, folglich auch zum eigenen Volk sowie zur Gesellschaft als Ganzer. Der lebendige Dialog zwischen den Generationen, der in der Familie seine Wurzeln hat, erfährt seine Fortsetzung in der Liebe zu den Vorfahren und dem Vaterland sowie in dem Gefühl der Teilhabe am historischen Geschehen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die Zerstörung der traditionellen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, woran der bedauerliche Sittenverfall der modernen Gesellschaft einen erheblichen Anteil hat, besonders negative Konsequenzen nach sich zieht. Die Herabsetzung des sozialen Stellenwerts der Mutterschaft und der Vaterschaft zugunsten der Berufserfolge des Mannes wie der Frau führt zum einen dazu, daß die Kinder als unnötige Bürde empfunden werden, zum anderen, daß Entfremdung und Widerstreit zwischen den Generationen überhandnehmen. Die Rolle der Familie für die Persönlichkeitsbildung ist von außerordentlicher Tragweite und kann nicht durch andere gesellschaftliche Einrichtungen ersetzt werden. Die Zerstörung der familiären Beziehungen führt unausweichlich zur Deformation einer normalen Entwicklung der Kinder und hinterläßt langanhaltende, zum Teil auch unaufhebbare Spuren im gesamten Verlauf von deren weiterem Leben.
Ein schwerwiegender sozialer Mißstand unserer Tage ist die Verwaisung trotz lebender Eltern. Tausende von ausgesetzten Kindern, die die Waisenhäuser füllen und unter Umständen auch auf der Straße landen, sind ein Beweis für den zutiefst krankhaften Zustand der Gesellschaft. Einhergehend mit der geistigen und materiellen Hilfe für diese Kinder sowie deren Einbeziehung in das religiöse und soziale Leben sieht die Kirche ihre Hauptpflicht in der Stärkung der Familie und der Förderung des Verantwortungsbewußtseins der Eltern, auf daß die Tragödie des ausgesetzten Kindes verhindert werden möge.
X.5. In der vorchristlichen Welt herrschte die Vorstellung von der Frau als einem dem Mann gegenüber minderwertigen Wesen. Die Kirche Christi hat die Würde und Berufung der Frau in deren ganzer Fülle offenbart und diese mit einer tiefen religiösen Begründung untermauert, die in der Verehrung der Allerheiligsten Gottesgebärerin ihren Höhepunkt erreicht. Der orthodoxen Lehre zufolge verkörperte die Hochheilige Maria, die unter den Frauen „gebenedeit» wurde (Lk 1.28), jene hohe Stufe moralischer Reinheit, geistiger Vollkommenheit und Heiligkeit, zu der sich die Menschheit erheben konnte und die die Würde der Engel überragt. In Ihrem Antlitz wird die Mutterschaft geheiligt und die hohe Bedeutung des weiblichen Prinzips bestätigt. In der Mutter Gottes wird das Geheimnis der Menschwerdung verwirklicht, somit hat Sie Anteil an der Errettung und Neuschöpfung der Menschheit. Die Kirche verehrt die Heiligen Frauen des Evangeliums sowie die zahlreichen christlichen Frauen, die für ihr Martyrium, ihren Glauben und ihre Gerechtigkeit gerühmt werden. Seit den frühen Anfängen der kirchlichen Gemeinde hat sich die Frau aktiv an deren Aufbau, dem liturgischen Leben, der Missionsarbeit, der Predigt, der Erziehung sowie den guten Werken beteiligt.
Während die Kirche die gesellschaftliche Rolle der Frau würdigt und ihre politische, kulturelle und soziale Gleichstellung mit den Männern begrüßt, wendet sie sich zugleich auch gegen Tendenzen der Abwertung der Rolle der Frau als Gattin und Mutter. Die fundamentale Gleichheit der Würde der Geschlechter hebt die natürlichen Unterschiede zwischen ihnen nicht auf und beinhaltet nicht die Gleichheit der Berufung in Familie und Gesellschaft. Insbesondere darf die Kirche die Worte des Apostels Paulus über die besondere Verantwortung des Mannes, der berufen ist, das „Haupt der Frau» zu sein und sie so zu lieben, wie Christus Seine Kirche liebt, sowie über die Berufung der Frau, sich dem Mann unterzuordnen, wie sich die Kirche Christus unterordnet (Eph 5.22-23, Kol 3.18), nicht mißdeuten. Es versteht sich von selbst, daß in diesen Worten weder von einem Despotismus des Mannes noch von einer Versklavung der Frau die Rede ist, sondern von der Vorherrschaft in der Verantwortung, der Sorge und der Liebe; doch sollte auch nicht vergessen werden, daß alle Christen aufgerufen sind, „in der gemeinsamen Ehrfurcht vor Christus» einander unterzuordnen (Eph 5.21). Deshalb gibt es „im Herrn» „weder die Frau ohne den Mann noch den Mann ohne die Frau; (…) alles aber stammt von Gott» (1 Kor 11.11-12).
Die Vertreter gewisser gesellschaftlicher Strömungen neigen dazu, der Ehe sowie dem Institut der Familie die gebührende Wertschätzung abzusprechen oder diese gar vollständig zu leugnen, indem sie der gesellschaftlich bedeutsamen Arbeit der Frau, einschließlich solcher Arbeiten, die mit der weiblichen Natur kaum oder gar nicht vereinbar sind (z.B. einige schwere körperliche Arbeiten) den Vorrang einräumen. Nicht selten wird einer künstlichen Angleichung der Beteiligung von Frauen und Männern an jeden Bereich menschlicher Tätigkeit das Wort geredet. Die Kirche sieht die Bestimmung der Frau weder in der unre-flektierten Nachahmung des Mannes noch im Wetteifer mit ihm, sondern in der Entfaltung aller ihr von Gott gegebenen Fähigkeiten, einschließlich derjenigen, die sich aus der ihr eigenen Natur ergeben. Ohne dem System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung Priorität zuzusprechen, mißt die christliche Anthropologie der Frau einen wesentlich höheren Stellenwert bei als die gegenwärtigen nichtreligiösen Anschauungen. Das Streben danach, die natürlichen Unterschiede im gesellschaftlichen Bereich nicht gelten zu lassen bzw. auf ein Minimum zu reduzieren, ist dem kirchlichen Verständnis fremd. Ähnlich den sozialen und ethnischen Unterschieden bedeuten auch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern kein Hindernis für das Heil, das Christus allen Menschen gebracht hat: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau, denn ihr alle seid .einer’ in Christus Jesus» (Gal 3.28). Diese soteriologische Feststellung bedeutet aber keineswegs eine künstliche Verwischung der menschlichen Vielfalt und darf nicht mechanisch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse übertragen werden.
X.6. Grundlage der inneren Einheit der menschlichen Persönlichkeit, die sich im Zustand der Übereinstimmung von geistigen und körperlichen Kräften befinden soll, ist die von der Kirche gepredigte Tugend der Keuschheit. Die Unzucht führt folgerecht zur Zerstörung der Harmonie und Ganzheit des menschlichen Lebens, beeinträchtigt in besonders schwerwiegender Weise seine seelische Gesundheit. Ausschweifung führt zur Schwächung der geistigen Sehkraft und verhärtet das Herz, indem es der Fähigkeit zu wahrer Liebe beraubt wird. Das Glück eines kraftvoll erfüllten Familienlebens bleibt dem Unzüchtigen verwehrt. Somit zieht die Versündigung gegen die Keuschheit auch negative soziale Konsequenzen nach sich. Unter den Vorzeichen der geistigen Krise der menschlichen Gesellschaft werden die Massenmedien sowie die Erzeugnisse der sogenannten Massenkultur oftmals zu Instrumenten der moralischen Verderbnis, indem sie Zügellosigkeit, alle erdenklichen sexuellen Ausschweifungen und andere sündhafte Leidenschaften anpreisen und verherrlichen. Die Pornographie — als Ausbeutung des Geschlechtstriebs zu kommerziellen, politischen oder ideologischen Zielen — bewirkt die Unterdrückung des geistigen und moralischen Prinzips und setzt den Menschen auf die Stufe des Tieres, das lediglich von seinem Instinkt gesteuert wird, herab.
Die systematische Verbreitung des Lasters fügt besonders den noch ungefestigten Seelen der Kinder und Jugendlichen Schaden zu. In Büchern, Filmen und der sonstigen Videoproduktion, den Massenmedien sowie in etlichen Bildungsprogrammen wird den Heranwachsenden oft ein Verständnis von den Beziehungen zwischen den Geschlechtern suggeriert, welches äußerst erniedrigend für die menschliche Würde ist, läßt es doch keinen Platz für den Begriff der Keuschheit und der ehelichen Treue sowie der Selbstaufopferung in der Liebe. Die intimen Beziehungen zwischen Mann und Frau werden nicht nur ihres Sinngehalts enthoben und zur Schau gestellt, was das natürliche Schamgefühl verletzt, sondern überdies als Vorgang rein körperlicher Bedürfnisbefriedigung dargestellt, ohne jegliche Beziehung zur tiefen innigen Verbundenheit wie auch zu jeglichen moralischen Verpflichtungen. In Unterstützung aller moralisch gesunden Kräfte ruft die Kirche die Gläubigen auf, die Verbreitung dieser dämonischen Versuchung zu bekämpfen, die, indem sie zum Zerfall der Familie beiträgt, die Grundfesten der Gesellschaft aushöhlt.
„Wer eine auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen» (Mt 5.28), sagt Jesus in der Bergpredigt. „Wenn die Begierde dann schwanger geworden ist, bringt sie die Sünde zur Welt; ist die Sünde reif geworden, bringt sie den Tod hervor», mahnt der Apostel Jakobus (Jak 1.15). Der Apostel Paulus bekräftigt, daß „Unzüchtige» „das Reich Gottes nicht erben werden» (1 Kor 6.9-10).
Diese Worte beziehen sich in ihrer ganzen Tragweite sowohl auf die Konsumenten als auch — und in einem noch höheren Maße — auf die Hersteller pornographischer Produktion. Letztere stehen außerdem noch unter dem Wort Christi: „Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer jversenkt würde. (…) wehe dem Menschen, der (die Verführung) verschuldet» (Mt |18.6-7). „Die Unzucht ist ein Gift, das die Seele tötet (…). Wer Unzucht treibt, fwendet sich von Christus ab», lehrte der hl. Hierarch Tichon von Zadon. Der hl. fDimitrij von Rostov schrieb: „Den Worten der Schrift zufolge ist der Leib jedes ,Christen nicht ihm, sondern Christi eigen: ,lhr aber seid der Leib Christi, und jeder einzelne ist ein Glied an ihm’ (1 Kor 12.27). Und es geht nicht an, daß du den Leib Christi durch Taten der Unzucht und Wollust besudelst, es sei denn, dies geschieht lim Rahmen des rechtmäßigen Ehestands. Weil du das Haus Christi bist, nach den Worten des Apostels: .Denn Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr’ (1 Kor 3.17).» Die frühe Kirche verurteilte in den Schriften ihrer Väter und Lehrer (wie beispielsweise Klemens von Alexandrien, der hl. Gregor von Nyssa und der hl. Johannes Chrysostomus) unablässig obszöne Theaterszenen und Darstellungen. Unter Androhung des Kirchenbanns verbietet die 100. Regel des Trullanischen Konzils „die Anfertigung von Darstellungen, (…) die den Verstand verderben und zumh Aufflammen lasterhafter Leidenschaften führen».
Der menschliche Körper ist eine wundervolle Schöpfung Gottes und dazu bestimmt, ein Tempel des Heiligen Geistes zu werden (1 Kor 6.19-20). So wie die Kirche Pornographie und Unzucht verurteilt, wendet sie sich zugleich dagegen, den Körper oder die geschlechtliche Nähe als solche zu verabscheuen; denn die körperlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau sind von Gott in der Ehe gesegnet, in der sie zur Quelle des Fortbestands des menschlichen Geschlechts werden und die keusche Liebe abbilden, in der die vollkommene Gemeinschaft und die „Einstimmigkeit der Seelen und der Körper» der Eheleu te zur Entfaltung kommen, worum die Kirche bei der Hochzeitsfeier betet. Im Gegenteil: Ächtung verdient die Verfälschung dieser reinen und nach göttlichem Plan würdevollen Beziehungen, desgleichen die Verkehrung des mensch lichen Körpers selbst in einen Gegenstand entwürdigender Ausbeutung und des Handels, die darauf abzielen, eine egoistische, unpersönliche, lieblose und ausgeartete Befriedigung zu ziehen. Genau aus diesem Grunde verwirft die Kirche unveränderlich die Prostitution sowie die Propagierung der sogenannten freien Liebe, die eine vollständige Trennung der körperlichen Nähe von der — nur innerhalb lebenslanger ehelicher Treue realisierbaren — persönlichen und geistigen Gemeinschaft, der einander zugeneigten Selbstlosigkeit und der allumfassenden gegenseitigen Verantwortung, vornimmt.
Der Tatsache gewahr, daß die Schule, neben der Familie, die Verpflichtung trägt, den Kindern und Heranwachsenden Wissen über die Beziehung zwischen den Geschlechtern sowie über die körperliche Natur des Menschen zu vermitteln, kann die Kirche diejenigen Programme der „Aufklärung» nicht gutheißen, die den vorehelichen Verkehr, und mehr noch, die verschiedensten Ausschweifungen als Norm aufstellen. Solche Programme Schulkindern zuzumuten ist absolut inakzeptabel. Die Schule ist berufen, sich dem Laster, das die Integrität der Persönlichkeit zerstört, entgegenzustemmen, die Jugend im Geiste der Keuschheit zu erziehen und auf die Gründung einer stabilen, auf Treue und Reinheit aufbauenden Familie vorzubereiten.
XI. Die Gesundheit der Person und des Volkes
XI.1. Die geistige und körperliche Gesundheit des Menschen ist ein traditioneller Gegenstand kirchlicher Fürsorge. Nach Auffassung der Orthodoxie stellt jedoch die physische Gesundheit allein ohne Beziehung zur geistigen keinen unbedingten Wert dar. Der Herr Jesus Christus heilte die Menschen, indem er durch Wort und Tat sich nicht nur um die Heilung von deren Leib kümmerte, sondern auch und viel mehr um ihre Seelen, letztendlich um die Integrität der Person. Nach den Worten des Erlösers Selbst heilte er „einen Menschen als ganzen» (Joh 7.23). Die Verkündigung der Frohen Botschaft wurde begleitet durch die Heilungen als ein Zeichen der göttlichen Macht, die Sünden zu vergeben. Ebenso gingen Heilungen mit der Predigt der Apostel einher. Die Kirche Christi, die durch ihren Göttlichen Gründer mit der gesamten Fülle der Gaben des Heiligen Geistes ausgestattet ist, war von Anfang an eine heilig-heilende Gemeinde und erinnert auch heute durch das Ritual der Beichte ihre Kinder daran, daß sie eine Heimstatt der Mühseligen und Kranken betreten, um von ihr geheilt zu werden.
Die anschaulichste Darstellung des biblischen Verhältnisses zur Medizin findet sich im Buch Jesus Sirach: „Schätze den Arzt, weil man ihn braucht, denn auch ihn hat Gott erschaffen. Von Gott hat der Arzt die Weisheit (…) Gott bringt aus der Erde Heilmittel hervor, der Einsichtige verschmähe sie nicht. (…) Er gab dem Menschen Einsicht, um sich durch seine Wunderkräfte zu verherrlichen. Durch Mittel beruhigt der Arzt den Schmerz, ebenso bereitet der Salbenmischer die Arznei, damit Gottes Werke nicht aufhören und die Hilfe nicht von der Erde verschwindet. Mein Sohn, bei Krankheit säume nicht, bete zu Gott, denn er macht gesund. Laß ab vom Bösen, mach deine Hände rechtschaffen, reinige dein Herz von allen Sünden! (…) Doch auch dem Arzt gewähre Zutritt! Er soll nicht fernbleiben; denn auch er ist notwendig. Zu gegebener Zeit liegt in seiner Hand der «Erfolg; denn auch er betet zu Gott, Er möge ihm die Untersuchung gelingen lassen und die Heilung zur Erhaltung des Lebens» (Sir 38.1-2, 4, 6-10, 12-14). Die herausragendsten Vertreter der antiken Medizin, aufgenommen in die Gemeinschaft der Heiligen, offenbarten ihre Heiligkeit auf eine besondere Art, nämlich durch ihre Selbstlosigkeit wie Wundertätigkeit. Ihre Verehrung verdankten sie nicht nur der Tatsache, daß viele von ihnen den Märtyrertod starben, sondern auch weil sie die Berufung zum Heilen als Form des christlichen Barmherzigkeitsgebots betrachteten.
Die Orthodoxe Kirche erweist der heilenden Tätigkeit, die sich als Dienst der Liebe der Prävention und Minderung menschlichen Leidens widmet, von je her ihre Hochachtung. Die Genesung der von Krankheit Versehrten menschlichen Natur erscheint als die Erfüllung des Ratschlusses Gottes über den Menschen: „Der Gott des Friedens heilige euch ganz und gar und bewahre euren Geist, eure Seele und euren Leib unversehrt, damit ihr ohne Tadel seid, wenn Jesus Christus, unser Gott, kommt» (1 Thess 5.23). Der Körper, befreit von der Herrschaft sündhafter Leidenschaften sowie den aus ihnen folgenden Krankheiten, soll der Seele dienen, während die seelischen Kräfte und Fähigkeiten durch ihre Verwandlung kraft der Gnade des Heiligen Geistes nach dem letzten Ziel sowie der Berufung des Menschen — der Vergöttlichung — streben müssen. Jede wahre Heilung hat die Berufung, des Heilungswunders teilhaftig zu werden, welches in der Kirche Christi geschieht. Zugleich aber ist zu unterscheiden zwischen der heilenden Kraft der Gnade des Heiligen Geistes, die durch den Glauben an den Einen Herrn Jesus Christus und die Teilhabe an den kirchlichen Sakramenten und Gebeten vermittelt wird, einerseits, und Zaubersprüchen, Verschwörungen, sonstigen magischen Handlungen wie auch Aberglauben andererseits.
Viele Krankheiten können nicht geheilt werden und führen zu Leid und Tod. Im Angesicht solcher Leiden ist der orthodoxe Christ gefordert, auf den allgütigen Willen Gottes zu vertrauen, indem er sich stets darauf besinnt, daß der Sinn des Daseins sich nicht im irdischen Leben erschöpft, dem die Bedeutung einer Vorstufe zur Ewigkeit zukommt. Die Leiden sind nicht lediglich die Konsequenz persönlichen Versagens, sondern zugleich der gesamten Sündhaftigkeit und Beschränktheit der menschlichen Natur, was den Menschen vor die Notwendigkeit stellt, diese mit Geduld und Hoffnung zu ertragen. Der Herr nimmt freiwillig die Leiden für die Erlösung des menschlichen Geschlechts auf sich: „Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünde zermalmt» (Jes 53.5). Das heißt, es hat Gott gefallen, das Leiden zum Mittel der Erlösung und der Läuterung zu machen, welches bei jedem Menschen, der es in Demut und Vertrauen in den allgütigen Willen Gottes erduldet, seine Wirksamkeit entfaltet. Nach den Worten des hl. Johannes Chrysostomus „ist derjenige, der die Fähigkeit erworben hat, Gott für seine Krankheiten dankbar zu sein, der Heiligkeit nahe». Dies besagt nicht, daß der Arzt oder der Kranke ihre Kräfte nicht dem Kampf gegen das Leiden widmen sollen. Wenn aber die menschlichen Mittel erschöpft sind, hat der Christ sich darauf zu besinnen, daß sich die Macht Gottes in der Ohnmacht des Menschen offenbart und daß er in seinem tiefsten Leid zur Begegnung mit Christus fähig ist, der unsere Schmerzen und Krankheiten hinwegnahm (Jes 53.4).
XI.2. Die Kirche ruft ihre Priester und Kinder dazu auf, unter den im Gesundheitswesen Tätigen vom Christentum Zeugnis abzulegen. Von überaus großer Wichtigkeit ist es, den Lehrenden und Auszubildenden an den Bildungsstätten für Medizin die Grundlagen der orthodoxen Glaubenslehre sowie der orthodox fundierten biomedizinischen Ethik zu vermitteln (vgl. XII). Die Seelsorge im Bereich der Gesundheitspflege besteht im wesentlichen in der Verkündigung des Wortes Gottes wie in der Vermittlung der Gnade des Heiligen Geistes an die Notleidenden und ihre Betreuer. In ihrem Zentrum stehen der Vollzug der erlösenden Sakramente, die Schaffung einer für das Gebet geeigneten Atmosphäre in den medizinischen Einrichtungen sowie die vielfältigen karitativen Hilfeleistungen für die Patienten. Die kirchliche Mission im medizinischen Bereich ist Pflicht nicht nur der Geistlichen, sondern auch der orthodoxen Laien, d.h. der im Gesundheitswesen Tätigen, die gefordert sind, alle Voraussetzungen zu schaffen, um den Kranken, die dies direkt oder auf mittelbare Weise erbitten, religiösen Trost spenden zu können. Der gläubige Arzt soll sich dessen bewußt sein, daß der hilfsbedürftige Mensch nicht nur eine angemessene Behandlung von ihm erwartet, sondern gleichermaßen seelische Unterstützung, insbesondere dann, wenn er eine Weltanschauung teilt, in der sich das Geheimnis von Leiden und Tod offenbart. Pflicht eines jeden orthodoxen medizinisch Tätigen ist es, im Umgang mit dem Patienten dem Beispiel des barmherzigen Samariters aus dem biblischen Gleichnis zu folgen.
Die Kirche segnet die orthodoxen Bruderschaften und Schwesternschaften der Barmherzigkeit, die ihren Dienst in Kliniken und sonstigen Einrichtungen der Gesundheitspflege verrichten und zusätzlich ihren Beitrag dazu leisten, Gebetsräume für die Kranken wie auch Kirchen- und Klosterkliniken zu gründen, damit auf jeder Stufe der Heilung und der Rehabilitation die medizinische Hilfe mit der seelsorglichen Betreuung in Einklang gebracht werden kann. Die Kirche ruft die Laien dazu auf, den Kranken nach Möglichkeit den Beistand zu leisten, der ihnen das menschliche Leid durch liebevolle Hingabe und Sorge ertragen helfen kann.
XI.3. Das Problem der Gesundheit der Person und des Volkes hat für die Kirche nicht einen rein äußerlichen, ausschließlich sozialen Charakter, sondern bezieht sich auf unmittelbare Weise auf ihre Sendung in der durch Sünde und Leid verunstalteten Welt. Die Kirche ist berufen, in Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden sowie den interessierten gesellschaftlichen Kreisen sich an der Ausarbeitung einer solchen Konzeption der Gesundheitspflege der Nation zu beteiligen, nach der jedem Menschen ermöglicht werden soll, sein Recht auf geistige, physische und psychische Gesundheit sowie auf soziales Wohlergehen bei längstmöglicher Lebensdauer in Anspruch zu nehmen.
Die Beziehungen zwischen dem Arzt und dem Patienten sollen auf Achtung vor der Integrität, der freien Wahl sowie der Würde der Person beruhen. Selbst die erhabensten Ziele können keine Manipulation von Menschen rechtfertigen. Die Kirche kann nicht anders, als den sich unter den Bedingungen der modernen Medizin entwickelnden Dialog zwischen Arzt und Patienten zu begrüßen. Eine solche Herangehensweise ist zweifelsohne in der christlichen Tradition verwurzelt, obwohl auch die Neigung dazu besteht, dies auf ein rein geschäftliches Verhältnis zu reduzieren. Gleichzeitig soll darauf hingewiesen werden, daß das eher traditionelle „paternalistische» Modell der Arzt-Patient-Beziehung, das angesichts der zahlreichen Versuche zur Rechtfertigung ärztlicher Willkür zu Recht kritisiert wird, auch eine Erscheinungsform des väterlichen Verhältnisses zu dem Kranken sein kann und folglich auch mit dem moralischen Antlitz des Arztes kongruent ist.
Ohne einem bestimmten Strukturmodell medizinischer Hilfe den Vorzug einzuräumen, vertritt die Kirche die Ansicht, daß diese Hilfe von möglichst großer Wirksamkeit sowie allen Mitgliedern der Gesellschaft zugänglich sein muß — einschließlich der Verteilung der knappen medizinischen Ressourcen -, unabhängig von deren materiellem Vermögen und sozialer Stellung. Damit eine solche Verteilung tatsächlichen Gerechtigkeitskriterien entspricht, soll das Kriterium der „Lebensbedürfnisse» dem der „Marktverhältnisse» vorgeordnet sein. Der Arzt darf das Maß seiner Verantwortung für die Erbringung medizinischer Hilfeleistungen nicht ausschließlich mit einem materiellen Entgelt und dessen Höhe verbinden, indem er auf diese Weise seinen Beruf zur Quelle der Bereicherung macht. Gleichzeitig stellt die angemessene Entlohnung der Arbeit der im Gesundheitswesen Tätigen eine bedeutsame Aufgabe der Gesellschaft und des Staates dar.
Während die Kirche die potentiellen Wohltaten einer zunehmend sich an Prognose und Prävention orientierenden Medizin anerkennt und sich der umfassenden Konzeption von Gesundheit und Krankheit insgesamt anschließt, warnt sie zugleich vor Versuchen, einzelne medizinische Theorien zu verabsolutieren, indem sie die Wichtigkeit der Erhaltung der geistigen Prioritäten im menschlichen Leben betont. Auf Grundlage ihrer jahrhundertealten Erfahrung warnt die Kirche gleichfalls vor der Gefahr der Einführung kultisch-magischer Praktiken unter dem Deckmantel einer „Alternativmedizin», die den menschlichen Willen und das Bewußtsein dem Wirken dämonischer Kräfte ausliefern. Jeder Mensch soll über das Recht sowie die tatsächliche Möglichkeit verfügen, solche Behandlungsmethoden abzulehnen, die seinen religiösen Überzeugungen entgegenstehen.
Die Kirche erinnert ihre Gläubigen daran, daß die körperliche Gesundheit — als lediglich ein Aspekt des ganzheitlichen menschlichen Daseins — allein nicht ausreichend ist. Zugleich kann nicht in Abrede gestellt werden, daß zur Unterstützung der Gesundheit der Person und des Volkes prophylaktische Maßnahmen sowie die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für die Pflege der Körperkultur und des Sports höchst bedeutsam sind. Wettkampf ist dem Sport eigen. Jedoch können seine maßlose Vermarktung, der damit zusammenhängende Kult des Hochmuts, die gesundheitsschädlichen Dopingmanipulationen und noch weniger solche Wettkämpfe, in deren Verlauf schwere Körperverletzungen gezielt in Kauf genommen werden, keine Billigung seitens der Kirche finden.
XI.4. Die Russisch-Orthodoxe Kirche stellt mit tiefster Besorgnis fest, daß die Völker, die traditionell von ihr geistig genährt werden, sich gegenwärtig in einer demographischen Krise befinden. Die Geburtenrate sowie die durchschnittliche Lebenserwartung sind deutlich zurückgegangen, die Bevölkerungszahl ist in ständiger Abnahme begriffen. Besonders bedrohliche Folgen können Epidemien, der Anstieg von Herz-Kreislauf-, psychischen, Geschlechts- und weiteren Erkrankungen, desgleichen die Drogensucht und der Alkoholismus zeitigen. Die Zahl der Kindererkrankungen, inklusive der geistigen Behinderung, hat sich vermehrt. Die demographischen Probleme führen zu einer Deformation der Gesellschaftsstruktur sowie zur Verringerung des schöpferischen Potentials der Völker und werden so zu einer der Ursachen der Schwächung der Familie. Die Hauptursachen für den Bevölkerungsrückgang sowie den besorgniserregenden Gesundheitszustand der erwähnten Völker waren im 20. Jahrhundert Kriege, Revolution, Hunger und Massenrepressionen, deren Folgen durch die tiefe gesellschaftliche Krise am Ende des Jahrhunderts verschärft worden sind.
Die demographischen Probleme sind Gegenstand der stetigen Aufmerksamkeit der Kirche. Sie ist berufen, den gesetzgebenden sowie den administrativen Prozeß zu verfolgen, um sich der Verabschiedung von Beschlüssen zu widersetzen, die zu einer Verschärfung der Situation führen. Zur Klärung der Position der Kirche in Fragen der Bevölkerungspolitik sowie des Gesundheitswesens ist ein ständiger Dialog mit der Staatsmacht sowie den Massenmedien erforderlich. Der Kampf gegen die sinkende Bevölkerungszahl soll die aktive Unterstützung der wissenschaftlich-medizinischen und der sozialen Programme zum Schutz der Mutterschaft und der Kindschaft, der Leibesfrucht sowie des Neugeborenen einschließen. Der Staat ist gefordert, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Geburt sowie die würdige Erziehung der Kinder zu unterstützen.
XI.5. Aus Sicht der Kirche stellen die psychischen Erkrankungen eine Erscheinungsform der grundsätzlichen sündhaften Verdorbenheit der menschlichen Natur dar. Unter besonderer Beachtung des Niveaus der geistigen, seelischen sowie körperlichen Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur unterschieden die Heiligen Väter zwischen „natürlich» hervorgerufenen Krankheiten einerseits und Leiden infolge teuflischer Beeinflussung oder Leidenschaften, die von dem Menschen Besitz ergreifen, andererseits. Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung entbehren sowohl die Rückführung sämtlicher psychischer Erkrankungen auf Besessenheit, dem das unbegründete Ritual des Exorzismus böser Geister folgen würde, als auch der Versuch, jegliche Geistesstörungen ausschließlich mit Hilfe von klinischen Methoden zu heilen, einer stichhaltigen Begründung. Den größten Nutzen im psychotherapeutischen Bereich erbringt die gleichzeitige Anwendung von seelsorglichen und ärztlichen Maßnahmen auf die Geisteskranken, unter Beachtung der erforderlichen Kompetenzabgrenzung zwischen dem Arzt und dem Priester.
Die psychische Erkrankung mindert in keiner Weise die Würde des Menschen. Die Kirche legt Zeugnis davon ab, daß auch der Geisteskranke ein Träger des Bildes Gottes ist und ein Mitbruder von uns bleibt, der des Mitleids und der Hilfe bedarf. Moralisch unzulässig sind psychotherapeutische Methoden, die auf der Unterdrückung der Persönlichkeit des Kranken sowie der Erniedrigung seiner Würde beruhen. Okkulte Methoden psychologischer Beeinflussung, zuweilen unter der Bezeichnung der wissenschaftlichen Psychotherapie, sind für die Orthodoxie definitiv unannehmbar. In besonderen Fällen sind zum Zweck der Heilung der Geisteskranken sowohl Isolierung als auch andere Formen des Zwangs von-nöten. Ausschlaggebend bei der Wahl der Form eines medizinischen Eingriffs soll in jedem Fall das Prinzip der möglichst geringen Einschränkung der Freiheit des Patienten sein.
XI.6. Die Bibel spricht vom „Wein, der das Herz des Menschen erfreut» (Ps 104.15 / Original: 103.15) und der „Frohsinn, Wonne und Lust bringt (…), zur rechten Zeit und genügsam getrunken» (Sir 31.28 / Original 31.31). Sowohl in der Heiligen Schrift als auch in den Schriften der Heiligen Väter finden wir jedoch ebenso die strenge Verurteilung des Lasters der Trunksucht, welches nach unmerklichem Beginn zahlreiche weitere verhängnisvolle Sünden nach sich zieht. Sehr häufig führt die Trunksucht den Zerfall der Familie herbei, schafft sowohl bei dem Opfer dieses sündhaften Lasters als auch bei den ihm nahestehenden Menschen, insbesondere den Kindern, mannigfaches Leid.
„Die Trunksucht ist eine Feindschaft gegen Gott (…). Die Trunksucht ist ein Dämon, den man sich freiwillig geholt hat (…). Die Trunksucht vertreibt den Heiligen Geist», schreibt der hl. Basilius der Große. „Die Trunksucht ist die Wurzel aller Übel (…). Der Trinker ist eine lebendige Leiche (…). Die Trunksucht kann auch als Strafe an sich dienen, indem sie die Seele verwirrt, geistige Umnachtung herbeiführt und den Trinker unzähligen Krankheiten — inneren wie äußeren -ausliefert (…). Die Trunksucht (…) ist ein vielgestaltiges und vielköpfiges Ungeheuer (…). Bald erwächst Unzucht aus ihm heraus, bald Zorn, bald Stumpfheit des Verstands und des Herzens, bald schändliche Liebe (…). Niemand ist in dem Maße dem bösen Willen des Teufels Untertan wie der Trinker», mahnte Johannes Chrysostomus. „Der betrunkene Mensch ist jedes Bösen fähig, gibt jeder Versuchung nach (…). Die Trunksucht beraubt den Trinker der Befähigung zu jeglicher Arbeit», bezeugt der hl. Tichon von Zadonsk.
Von noch größerem unheilvollem Ausmaß ist die weit verbreitete Drogensucht, eine Sucht, die den von ihr ergriffenen Menschen besonders anfällig für die Beeinflussung durch teuflische Gewalt macht. Jedes Jahr ergreift dieses schreckliche Leid eine immer größer werdende Zahl von Menschen und verursacht den Tod vieler. Besonders anfällig für die Drogensucht ist die Jugend, hierin liegt eine große Gefahr für die Gesellschaft. Eigennützige Interessen der Rauschgiftindustrie fördern die Herausbildung einer eigenen Pseudo-„Drogenkultur» -insbesondere im Jugendlichenmilieu. Den unreifen Menschen werden Verhaltensmuster vorgeführt, die den Gebrauch von Drogen als einen „naturgemäßen» und sogar unerläßlichen Bestandteil der Kommunikation darstellen.
Der Hauptgrund der Flucht vieler unserer Zeitgenossen in das Reich der durch Alkohol oder Drogen hervorgerufenen Illusionen besteht in der seelischen Verwüstung, der Sinnentleerung des Lebens sowie dem Schwinden moralischer Leitlinien. Drogensucht und Alkoholismus sind Erscheinungsformen des seelischen Krankheitszustands nicht nur des einzelnen Menschen, sondern der Gesellschaft insgesamt. Das ist der Tribut an die Konsumideologie, an den Kult des materiellen Wohlstandsfortschritts, den Mangel an Spiritualität sowie den Verlust wahrer Ideale. Die Kirche, die den Opfern der Trunk- und Drogensucht seelsorgliches Mitleid entgegenbringt, bietet ihnen geistliche Unterstützung bei der Überwindung dieses Lasters an. Ohne die Notwendigkeit der medizinischen Hilfe in besonders fortgeschrittenen Krankheitsstadien in Abrede zu stellen, legt die Kirche großen Wert auf Prophylaxe und Rehabilitierung, die zumal bei der bewußten Einbeziehung der Leidenden in das eucharistische und Gemeindeleben beste Wirkungen erbringen.
XII. Fragen der Bioethik
XII.1. Die rasante Entwicklung biomedizinischer Technologien, die in das Leben des heutigen Menschen von der Geburt bis zum Tode eingreift, und die Unmöglichkeit, den sich dabei stellenden sittlichen Herausforderungen im Rahmen der traditionellen medizinischen Ethik Antwort zu geben, sind für die Gesellschaft Anlaß tiefster Besorgnis. Der Versuch der Menschen, durch eine nach Belieben vorgenommene Änderung und „Verbesserung» Seiner Schöpfung Gott gleich zu werden, birgt die Gefahr, der Menschheit neue Bürden und neues Leid aufzuerlegen. Die Entwicklung der biomedizinischen Technologien drängt zusehends jedwede kritische Beurteilung der möglichen geistig-ethischen und sozialen Konsequenzen ihrer unkontrollierten Anwendung an den Rand, was bei der Kirche unweigerlich tiefe pastorale Sorge auslösen muß. Bei der Formulierung ihrer Position hinsichtlich den gegenwärtig weltweit diskutierten Fragen der Bioethik, allen voran denjenigen, die mit einer konkreten Einwirkung auf den Menschen verbunden sind, geht die Kirche von der auf der Göttlichen Offenbarung beruhenden Vorstellung vom Leben als einer unschätzbaren Gabe Gottes aus; ebenso geht sie von der unaufhebbaren Freiheit sowie gottebenbildlichen Würde der menschlichen Person aus, die zur „himmlischen Berufung, die Gott uns in Jesus Christus schenkt» (Phil 3.14) und zum Erringen einer Vollkommenheit gleich der des himmlischen Vaters (Mt 5.48) bestimmt ist, die zur Vergöttlichung, d.h. zur Teilhabe an der göttlichen Natur (2 Petr 1.4), berufen ist.
XII.2. Seit alters her bezeichnet die Kirche den vorsätzlichen Schwangerschafts abbruch (Abtreibung) als schwere Sünde. Die kanonischen Regeln setzen die Abtreibung mit Mord gleich. Dieser Beurteilung liegt die Überzeugung zugrunde, daß das keimende menschliche Leben ein Geschenk Gottes ist, mithin stellt jeder Eingriff in das Leben der künftigen menschlichen Persönlichkeit eine verbrecherische Tat dar.
Der Psalmist beschreibt die Entwicklung der Frucht im Mutterleib als einen schöpferischen Akt Gottes: „Denn du hast mein Inneres geschaffen, mich gewoben im Schoß meiner Mutter. (…) Als ich geformt wurde im Dunkeln, kunst voll gewirkt in den Tiefen der Erde, waren meine Glieder dir nicht verborgen, Deine Augen sahen, wie ich entstand» (Ps 139.13, 15-16 / Original: 138.13, 15- 16). Das gleiche bezeugt Ijob in seinen an Gott gerichteten Worten: „Deine Hände haben mich gebildet. (…) Hast du mich nicht ausgegossen wie Milch, wie Käse mich gerinnen lassen? Mit Haut und Fleisch hast du mich umkleidet, mit Knochen und Sehnen mich durchflochten. Leben und Huld hast du mir verliehen, deine Obhut schützte meinen Geist. (…) (Du) ließest (…) mich aus dem Mutterschoß kommen» (Ijob 10.8-12, 18). „Noch ehe ich dich im Mutterleib formte (…), noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt» (Jer 1.5-6), sprach der Herr zum Propheten Jeremia. „Töte das Kirid nicht, verursache keine Fehlgeburt» — dieses Gebot reiht sich unter den wichtigsten Geboten Gottes in die „Lehre der zwölf Apostel» ein, einer der ältesten christlichen Schriften. „Die Frau, die eine Fehlgeburt verursacht, ist Mörderin und muß Rechenschaft ablegen vor Gott. Weil (…) die Frucht im Leib ein lebendiges Wesen ist, ein Abbild Gottes», schrieb Athenagoras, der Apologet des 2. Jahrhunderts. „Wer ein Mensch werden wird, ist bereits ein Mensch», bekräftigte Tertullian an der Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert. „Diejenige, die die Frucht im Leibe vorsätzlich tötet, unterliegt der Verurteilung wegen Mordes (…). Diejenigen, die medizinische Mittel für die Vernichtung der Frucht im Leibe reichen, sind wie Mörder zu bestrafen, desgleichen diejenigen, die kindstötendes Gift einnehmen», steht in der 2. und 8. Regel des hl. Basilius des Großen, die in das Buch der Regeln der Orthodoxen Kirche aufgenommen und durch die 91. Regel des VI. Ökumenischen Konzils bestätigt worden ist. In diesem Zusammenhang betont Basilius, daß die Schwere der Schuld unabhängig von der Dauer der Schwangerschaft ist. „Wir treffen keine Unterscheidung zwischen der ausgebildeten und der sich noch in Ausbildung befindenden Frucht.» Der hl. Johannes Chrysostomus bezeichnete jene, die eine Abtreibung vornehmen, als die „Bösesten, wenn nicht Mörder».
Nach Beurteilung der Kirche, ist in der weiten Verbreitung und Rechtfertigung der Abtreibung in der modernen Gesellschaft eine Bedrohung für die Zukunft der Menschheit und ein unbestreitbares Zeugnis des moralischen Verfalls zu sehen. Die Treue zu der von der Bibel und den Heiligen Vätern überlieferten Lehre über die Heiligkeit und Kostbarkeit des menschlichen Lebens ist mit einer Anerkennung der „Freiheit der Wahl» der Frau in der Verfügung über das Schicksal der Leibesfrucht grundsätzlich unvereinbar. Darüber hinaus stellt die Abtreibung eine ernstzunehmende Gefahr für die physische und seelische Gesundheit der Mutter dar. Die Kirche ist sich stets ihrer Pflicht bewußt, sich für die Verteidigung der verletzlichsten und abhängigsten menschlichen Wesen — der ungeborenen Kinder — einzusetzen. Unter keinen Umständen kann die Orthodoxe Kirche der Durchführung einer Abtreibung den Segen erteilen. Ohne die Frauen, die eine Abtreibung vorgenommen haben, zu verwerfen, ruft die Kirche sie zu Reue und Überwindung der unseligen Folgen ihrer Sünde durch Gebet, zur Kirchenbuße sowie der daran anschließenden Teilnahme an den erlösenden Sakramenten auf. In Fällen, in denen das Leben der Frau durch die Fortführung der Schwangerschaft unmittelbar bedroht ist, im besonderen dann, wenn sie bereits Kinder zur Welt gebracht hat, wird in der pastoralen Praxis zu Nachsicht geraten. Der Frau, die angesichts derartiger Umstände die Schwangerschaft abgebrochen hat, wird die eucharistische Gemeinschaft mit der Kirche nicht versagt, diese Gemeinschaft wird jedoch nur unter der Bedingung gewährt, daß die Frau der von ihrem Beichtvater bestimmten persönlichen Bußgebetsregel Folge leistet. Der Kampf gegen die Abtreibung, zu der sich die Frauen unter dem Druck äußerster materieller Not und Hilflosigkeit entschließen, fordert von der Kirche wie der Gesellschaft die Ausarbeitung tatkräftiger Maßnahmen zum Schutz der Mutterschaft, ebenso von Adoptionsbedingungen zugunsten der Kinder, deren Mütter sie aus irgendeinem Grund nicht selbständig erziehen können.
Die Verantwortung für die Sünde der Tötung des ungeborenen Kindes trägt neben der Frau auch der Vater, wenn die Abtreibung mit seiner Einwilligung durchgeführt worden ist. Sollte die Abtreibung durch die Frau ohne das Einverständnis des Mannes vorgenommen worden sein, kann dies als Scheidungsgrund geltend gemacht werden (vgl. X.3). Der Arzt, der die Abtreibung durchgeführt hat, lädt im gleichen Maße Sünde auf sich. Die Kirche fordert den Staat auf, das Recht der medizinisch Tätigen auf Verweigerung einer Abtreibung aus Gewissensgründen zu respektieren. Eine Rechtslage, die die rechtliche Verantwortung des Arztes für den Tod der Frau unvergleichlich höher setzt als die Verantwortung für die Zerstörung des ungeborenen Lebens — und die somit Ärzte wie Patienten zu einer Abtreibung nahezu herausfordert -, darf nicht als selbstverständlich erachtet werden. Der Arzt soll bei der Diagnostizierung, die unter Umständen eine Entscheidung zugunsten des Schwangerschaftsabbruchs nach sich zieht, mit höchster Gewissenhaftigkeit vorgehen, wobei der gläubige Arzt verpflichtet ist, den medizinischen Befund einerseits und die Gebote des christlichen Gewissens andererseits prüfend gegeneinander abzuwägen.
XII.3. Eine religiös-sittliche Beurteilung muß auch die Frage der Empfängnisverhütung erfahren. Einige kontrazeptive Mittel besitzen eine praktisch abortive Wirkung, die bereits in den frühesten Stadien das Leben des Embryos künstlich beendet, weshalb diese Mittel dem für die Abtreibung geltenden Urteil unterliegen. Andere Mittel, die nicht mit dem Abbruch bereits beginnenden Lebens verknüpft sind, dürfen keineswegs einer Abtreibung gleichgestellt werden. Bei Begründung ihrer Haltung zu den nichtabortiven Empfängnisverhütungsmitteln lassen sich die christlichen Ehegatten von der Überzeugung leiten, daß die Weitergabe des menschlichen Lebens eines der Hauptziele des durch Gott gestifteten Ehebundes ist (vgl. X.4). Der bewußte Verzicht auf Kinder aus egoistischen Erwägungen entwertet dje Ehe und ist eine unbestreitbare Sünde.
Gleichzeitig sind die Eltern auch vor Gott für die vollwertige Erziehung der Kinder verantwortlich. Ein verantwortungsbewußtes Verhältnis zur Geburt von Kindern wird u.a. auch durch eine zeitweilige Enthaltung bezeugt. Allerdings sind ebenso die Worte des Apostels Paulus an die christlichen Ehegatten im Gedächtnis zu bewahren: „Entzieht euch einander nicht, außer im gegenseitigen Einverständnis und nur eine Zeitlang, um für das Gebet frei zu sein. Dann kommt wieder zusammen, damit euch der Satan nicht in Versuchung führt, wenn ihr euch nicht enthalten könnt» (1 Kor 7.5). Es ist selbstverständlich, daß die diesbezüglichen Entscheidungen von den Ehegatten in gegenseitigem Einvernehmen und unter Hinzuziehung des Rates eines Geistlichen getroffen werden müssen. Letzterer hat in jedem Einzelfall mit pastoraler Wachsamkeit die Lebensbedingungen des Ehepaars, ihr Alter, ihre Gesundheit, die Stufe ihrer geistigen Reife sowie eine Anzahl weiterer zusätzlicher Umstände in Erwägung zu ziehen, wobei auch eine Unterscheidung zwischen jenen, die die hohen Anforderungen der Enthaltsamkeit zu „erfassen» imstande sind und jenen, denen es nicht „gegeben ist» (Mt 19.11), zu treffen und gleichzeitig für die Erhaltung und Festigung der Familie Sorge zu tragen ist.
Der Heilige Synod der Russisch-Orthodoxen Kirche verwies in seinem Beschlußpapier vom 28.10.1998 die Priester, die einen geistlichen Dienst versehen, auf die „Unzulässigkeit des Zwangs oder der Nötigung der Kinder der Kirche, gegen ihren Willen (…) auf eine eheliche Beziehung innerhalb der Ehe zu verzichten», und erinnerte die Seelsorger nachdrücklich daran, „bei der Besprechung von Fragen, die Aspekte des Ehe- und Familienlebens der Kinder der Kirche berühren, besondere Keuschheit wie auch seelsorgliche Wachsamkeit zu zeigen».
XII.4. Die Anwendung neuer biomedizinischer Methoden hilft in vielen Fällen, das Leiden der Unfruchtbarkeit zu überwinden. Zugleich beeinträchtigt die Zunahme der technologischen Eingriffe in den Prozeß des Aufkeimens des menschlichen Lebens die geistige Integrität und physische Gesundheit der Person. Im gleichen Maße sind die — von alters her grundlegenden — zwischenmenschlichen Beziehungen gefährdet. Mit der Entwicklung der erwähnten Technologien geht die auf nationaler und internationaler Ebene betriebene Verbreitung der Ideologie sogenannter Reproduktionsrechte einher. Diese Weltanschauung behauptet eine Priorität der geschlechtlichen und sozialen Selbstverwirklichung der Person gegenüber der Sorge um die Zukunft des Kindes, um die geistige und physische Gesundheit der Gesellschaft und deren moralischen Zustand. Allmählich bahnt sich eine weltweite Sichtweise des menschlichen Lebens an, der zufolge es als ein Produkt gilt, das nach persönlichen Präferenzen auswählbar ist und über das verfügt werden kann gleich sonstigen materiellen Gegenständen.
In den Trauungsgottesdiensten bringt die Orthodoxe Kirche ihr Vertrauen darauf zum Ausdruck, daß das Aufziehen von Kindern, wohl wünschenswerte Frucht der gesetzlichen Ehe, nicht deren einziges Ziel ist. Neben der „Frucht des Leibes» erbitten die Eheleute die Gaben der unvergänglichen gegenseitigen Liebe, der Keuschheit sowie der „Einstimmigkeit von Seele und Körper». Deshalb kann die Kirche Wege zur Elternschaft, die mit dem Ratschluß des Schöpfers allen Lebens unvereinbar sind, nicht als moralisch gerechtfertigt akzeptieren. Falls der Mann oder die Frau unfruchtbar ist und die therapeutischen und chirurgischen Methoden der Heilung von Infertilität keine Abhilfe geschafft haben, so sollen sie ihre Kinderlosigkeit in Demut als eine besondere Berufung für ihr Leben annehmen. Die seelsorgliche Beratung soll in solchen Fällen anregen, eine Adoption in gegenseitigem Einverständnis der Eltern in Betracht zu ziehen. Die künstliche Befruchtung mit Samenzellen des Mannes, insofern sie ja die Einheit der Ehegemeinschaft nicht beeinträchtigt, sich von der natürlichen Empfängnis nicht prinzipiell unterscheidet und im Rahmen der ehelichen Beziehung vorgenommen wird, kann ebenfalls zu den zulässigen Mitteln ärztlicher Hilfe gerechnet werden.
Eine Manipulation aber, die im Zusammenhang mit einer Samenspende entsteht, verletzt die Integrität der Persönlichkeit sowie die Ausschließlichkeit der ehelichen Beziehungen mittels des erlaubten Eingriffs durch einen Dritten. Darüber hinaus fördert eine solche Praxis eine der Verantwortung enthobene Vaterschaft oder Mutterschaft wie auch die bewußte Befreiung von allen Verbindlichkeiten gegenüber denjenigen, die „Fleisch vom Fleische» der anonymen Spender sind. Zudem höhlt der Rückgriff auf Spenderzellen die Grundfesten der familiären Beziehungen auch insofern aus, als die Kindschaft neben der „sozialen» auch die sogenannte biologische Elternschaft voraussetzt. Eine „Leihmutterschaft», d.h. die Einpflanzung einer befruchteten Eizelle bei einer Frau, die nach der Geburt das Kind den „Auftraggebern» zurückgibt, ist widernatürlich und in moralischer Hinsicht inakzeptabel, auch in Fällen, in denen dies auf nichtkommerzieller Basis erfolgt. Eine solche Vorgehensweise bedeutet die Zerstörung der tiefen emotionalen und geistigen Nähe, die sich zwischen der Mutter und dem Kind in der Zeit der Schwangerschaft entwickelt. Die „Leihmutterschaft» hat traumatische Auswirkungen sowohl auf die austragende Frau, deren mütterliche Gefühle verletzt werden, als auch auf das Kind, das nachfolgend eine Identitätskrise wird durchleiden müssen. Unstatthaft aus orthodoxer Sicht sind des weiteren alle Varianten extrakorporaler (außerhalb des Mutterleibs erfolgend) Befruchtung, die die Erzeugung, Konservierung sowie absichtliche Vernichtung „überschüssiger» Embryonen einschließt. Namentlich auf der Anerkennung der menschlichen Würde auch des Embryos stützt sich ja die moralische Verurteilung der Abtreibung seitens der Kirche (vgl. XII.2).
Die Befruchtung alleinstehender Frauen mit Hilfe von Spendersamen bzw. eine Verwirklichung des „Rechts auf Reproduktion» alleinstehender Männer und Personen von sogenannter abweichender sexueller Orientierung beraubt das werdende Kind seines Rechts auf Mutter und Vater. Die Anwendung reproduktiver Methoden außerhalb der von Gott gesegneten Familie wird zu einer Form von Gottlosigkeit, die sich unter dem Deckmantel der Autonomie des Menschen wie auch der falsch verstandenen Freiheit der Person Bahn bricht.
XII.5. Ein Großteil der Gebrechen des Menschen insgesamt besteht aus Erbkrankheiten. Die Entwicklung der medizinisch-genetischen Diagnose- und Heilmethoden trägt zur Verhütung solcher Krankheiten bei sowie zur Milderung der Leiden unzähliger Menschen. Es gilt hierbei jedoch zu bedenken, daß genetische Störungen nicht selten aus der Vernachlässigung moralischer Grundsätze resultieren, d.h. aus einer lasterhaften Lebensweise, infolge dessen jene Leiden über die Nachkommenschaft kommen. Die sündhafte Zersetzung der menschlichen Natur wird durch geistigspirituelle Anstrengung überwunden; aber wenn das Laster im Leben von Generation zu Generation mit wachsender Macht herrscht, gehen die Worte der Heiligen Schrift in Erfüllung: „denn schlimm ist das Ende eines schuldhaften Geschlechts» (Weish 3.19). Entsprechend gültig ist auch sein Gegenteil: „Wohl dem Mann, der den Herrn fürchtet und ehrt und sich herzlich freut an seinen Geboten. Seine Nachkommen werden mächtig im Land, das Geschlecht der Redlichen wird gesegnet» (Ps 112.1-2/Original: 111.1-2). Somit erweisen sich die Forschungen auf dem Gebiet der Genetik als eine Bestätigung der geistigen Gesetzmäßigkeiten, die Jahrhunderte zuvor der Menschheit im Worte Gottes offenbart wurden.
Neben dem Verweis auf die moralischen Wurzeln der Gebrechen begrüßt die Kirche die Bemühungen der Ärzte um eine Überwindung der Erbkrankheiten. Zugleich darf das Ziel eines genetischen Eingriffs jedoch nicht in der künstlichen „Vervollkommnung» des Menschengeschlechts oder in einer Änderung des Ratschlusses Gottes über den Menschen liegen. Aus diesen Gründen dürfen gentherapeutische Eingriffe nur mit Zustimmung des Patienten oder dessen gesetzlichen Vertreters, weiterhin ausschließlich zu medizinischen Zwecken vorgenommen werden. Die gentherapeutische Behandlung von Keimzellen kann von äußerst gefährlichem Charakter sein, da von den Veränderungen des Genoms (gesamte Erbsubstanz) eine Folge von Generationen betroffen wäre, was unabsehbare Implikationen in Form neuer Mutationen wie auch der DeStabilisierung des Gleichgewichts zwischen dem menschlichen Geschlecht und der Umwelt nach sich ziehen könnte.
Die Erfolge der Entschlüsselung des genetischen Codes schaffen die realen Voraussetzungen für eine breite Anwendung von Gentests mit dem Ziel, Informationen über die natürliche Einzigartigkeit jedes Menschen und dessen Veranlagung zu bestimmten Krankheiten zugänglich zu machen. Die Ausstellung einer „genetischen Identitätskarte» könnte bei vernünftiger Nutzung der gewonnenen Daten dazu beitragen, die Entwicklung von für den konkreten Menschen spezifischen Krankheiten rechtzeitig zu korrigieren. Es besteht jedoch die tatsächliche Gefahr, daß genetische Informationen zu verschiedenen Formen der Diskriminierung mißbraucht werden. Auch kann das Wissen über die erbliche Veranlagung zu schwerer Krankheit zu einer untragbaren psychischen Belastung werden. Deshalb dürfen die genetische Identifikation sowie die genetische Testierung nur in Übereinstimmung mit der Achtung der Freiheit der Person durchgeführt werden.
Einen ambivalenten Charakter weisen des weiteren die Methoden der prä-natalen Diagnostik (der Geburt vorausgehend) auf, mit deren Hilfe eine Erbkrankheit in einem frühen Stadium der Schwangerschaft festgestellt werden kann. Einige dieser Methoden können eine Gefahr für das Leben oder die Unversehrtheit des einem Test unterzogenen Embryos oder der Frucht sein. Die Feststellung einer nicht oder schwer heilbaren genetischen Krankheit wird nicht selten Grund für die Unterbrechung des werdenden Lebens; bekanntlich ist in gewissen. Fällen auf die Eltern sogar entsprechender Druck ausgeübt worden. Die pränatale Diagnostik gilt als moralisch gerechtfertigt, wenn sie auf die Heilung der entdeckten Krankheiten in möglichst frühen Stadien oder auf die Vorbereitung der Eltern auf eine situationsgerechte Pflege des kranken Kindes ausgerichtet ist.
Das Recht auf Leben, Liebe und Fürsorge kommt jedem Menschen zu, ohne einer Krankheit wegen diskriminiert zu werden. Der Heiligen Schrift zufolge ist Gott Selbst „Beschützer der Verachteten» (Jud 9.11). Der Apostel Paulus lehrt uns, uns „der Schwachen anzunehmen» (Apg 20.35; 1 Thess 5.14); durch den Vergleich der Kirche mit dem menschlichen Körper weist er darauf hin, daß „gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes (…) unentbehrlich» sind, denn den weniger edlen „erweisen wir um so mehr Ehre (…), während die anständigen das nicht nötig haben» (1 Kor 12.22-24 / Original: 12.22, 24). Absolut unstatthaft ist die Anwendung von Methoden der pränatalen Diagnostik zum Ziel der Auswahl des von den Eltern gewünschten Geschlechts des künftigen Kindes.
XII.6. Das von einigen Wissenschaftlern realisierte Klonen (Herstellung genetisch identischer Kopien) von Tieren wirft die Frage nach der Zulässigkeit und den möglichen Konsequenzen des Klonens von Menschen auf. Die — auf weltweite Ablehnung stoßende — Umsetzung dieses Vorhabens würde sich zerstörerisch auf die Fundamente der Gesellschaft auswirken. In noch größerem Ausmaß als die übrigen reproduktiven Technologien eröffnet das Klonen Möglichkeiten zur Manipulation des genetischen Erbguts des Menschen und trägt derart zu dessen fortschreitenden Entwertung bei. Der Mensch darf nicht für sich die Rolle des Schöpfers ihm ähnlicher Wesen beanspruchen oder für letztere genetische Prototype auswählen und dadurch ihre persönlichen Merkmale nach eigenem Ermessen festlegen. Der Grundgedanke des Klonens ist zweifellos eine Anmaßung gegenüber der Natur des Menschen und seiner ihm eingeschriebenen Gottebenbildlichkeit, deren unveräußerliche Bestandteile Freiheit und Einzigartigkeit der Persönlichkeit sind. Eine „Druckvorlage» von Menschen mit im voraus festgelegten Charakteristika kann lediglich für Anhänger totalitärer Ideologien eine erstrebenswerte Errungenschaft sein.
Das Klonen von Menschen kann die Verkehrung der natürlichen Grundlagen des Geburtsvorgangs, der Blutsverwandtschaft, der Mutterschaft sowie der Vaterschaft herbeiführen. Das Kind kann zur Schwester seine Mutter, zum Bruder seines Vaters oder zur Tochter des Großvaters werden. Äußerst gefährlich sind auch die psychischen Implikationen des Klonens. Der infolge eines solchen Verfahrens zur Welt gebrachte Mensch kann nicht das Selbstwertgefühl einer eigenständigen Persönlichkeit entwickeln, sondern würde sich lediglich als „Kopie» eines jetzt lebenden oder bereits verstorbenen Menschen empfinden. Weiterhin sollte beachtet werden, daß als „Begleiterscheinungen» der Versuche des Klonens von Menschen zweifelsohne eine große Anzahl gescheiterter Leben erzeugt sowie -und aller Wahrscheinlichkeit nach — auch eine größtenteils lebensunfähige Nachkommenschaft hervorgebracht würde. Nichtsdestoweniger stellt das Klonen isolierter Zellen und organischer Gewebe keinen Angriff auf die Würde der Persönlichkeit dar und erweist sich in der biologischen und medizinischen Praxis in zahlreichen Fällen als geeignet.
XII.7. Die gegenwärtige Transplantologie (Theorie und Praxis der Übertragung von Organen und Geweben) erlaubt es, vielen Kranken, die in der Vergangenheit zu sicherem Tod oder schwerer Invalidität verurteilt gewesen wären, erfolgreich Hilfe zu leisten. Gleichzeitig kann die Entwicklung dieses Teilbereichs der Medizin, die eine Steigerung des Bedarfs an entsprechenden Organen nach sich zieht, moralische Probleme heraufbeschwören und sich als eine Gefahr für die Gesellschaft entpuppen. So schaffen die gewissenlose Propagierung des Organspendens sowie die Vermarktung der Transplantation die Voraussetzungen für den Handel mit menschlichen Körperteilen, was bedrohliche Auswirkungen auf das Leben und die Gesundheit des Menschen haben kann. Die Kirche ist der Ansicht, daß die Organe des Menschen nicht wie Gegenstände des Kaufs und Verkaufs behandelt werden dürfen. Die Transplantation von Organen eines lebenden Spenders setzt unbedingt die freiwillige Selbstaufopferung mit dem Ziel der Lebensrettung eines Mitmenschen voraus. In diesem Fall kommen durch die Einwilligung zur Explantation (Organentnahme) die Liebe und das Mitleid zum Ausdruck. Letzteres verlangt jedoch, daß der Spender über potentiell gesund-heitsgefährdende Folgen der Organentnahme umfassend aufgeklärt ist. Eine Explantation, die mit einer unmittelbaren Lebensbedrohung für den Spender einhergeht, ist moralisch nicht zu rechtfertigen. Die bisher gebräuchlichste Praxis ist die Organentnahme von soeben verstorbenen Menschen. In diesen Fällen ist es erforderlich, etwaige Unsicherheiten über den Zeitpunkt des Todeseintritts zu klären. Moralisch unvertretbar ist außerdem die Verkürzung des Lebens eines Menschen, einschließlich der Verkürzung durch Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen, zugunsten der Verlängerung des Lebens eines anderen.
Gemäß der göttlichen Offenbarung bekennt sich die Kirche zum Glauben an die leibliche Auferstehung der Verstorbenen (Jes 26.19, Rom 8.11, 1 Kor 15.42-44, 52-54, Phil 3.21). Durch den Ritus der christlichen Beisetzung bringt die Kirche die dem Körper des Verstorbenen gebührende Achtung zum Ausdruck. Die postume Organ- und Gewebespende kann nun jedoch auch als Erscheinungsform einer über den Tod hinausgehenden Liebe betrachtet werden. Zu einem derart beschaffenen Geschenk oder Testament darf der Mensch nicht verpflichtet werden. Aus diesem Grunde stellt die zu Lebzeiten des Spenders gegebene Zustimmung eine Vorbedingung für die Rechtmäßigkeit und moralische Akzeptabilität der Explantation dar. Bei fehlender Willensäußerung seitens des infragekommenden Spenders sind die Ärzte gehalten, den Willen des sterbenden oder bereits verstorbenen Menschen zu klären, wobei sie — soweit erforderlich — auch die Hilfe der Angehörigen in Anspruch nehmen können. Aus der Sicht der Kirche stellt das in der Gesetzgebung zahlreicher Staaten verankerte sogenannte mutmaßliche Einverständnis eines potentiellen Spenders zur Organ-und Gewebeentnahme eine inakzeptable Verletzung der menschlichen Freiheit dar.
Die Organe und Gewebe des Spenders werden von dem Empfänger (Rezipient) aufgenommen und bilden nunmehr einen Teil seiner persönlichen seelischkörperlichen Einheit. In Anbetracht dessen kann eine Transplantation, die eine Gefahr für die Identitätsfindung des Rezipienten in sich birgt, die seine Einzigartigkeit als Person sowie als Repräsentant der Gattung bedroht, unter keinen Umständen moralisch rechtfertigt werden. Diese Bedingung gilt es bei der Lösung von Fragen im Zusammenhang mit der Übertragung von Organen und Geweben animalischer Herkunft zu bedenken.
Als vorbehaltlos unzulässig erachtet die Kirche die Anwendung von Methoden der sogenannten fötalen Therapie, die auf der Entnahme und Verwendung von Geweben und Organen von — in verschiedenen Entwicklungsstadien abgetriebenen — menschlichen Embryonen zu Zwecken der Behandlung verschiedener Krankheiten sowie der „Verjüngung» des Organismus beruht. Ausgehend von der Verurteilung der Abtreibung als Todsünde kann die Kirche für diese selbst dann keine Rechtfertigung finden, wenn die Vernichtung des beginnenden menschlichen Lebens gesundheitliche Vorteile für eine bestimmte Person erwarten läßt. Als unbestreitbarer Beitrag zur noch größeren Verbreitung und Vermarktung der Abtreibung liefert diese Praxis (auch wenn ihre — derzeit hypothetische — Wirksamkeit wissenschaftlich belegt wäre) ein Beispiel unerhörter Amoralität und verbrecherischen Charakters.
XII.8. Die Praxis der Entnahme von transplantationsgeeigneten Organen sowie die Entwicklung der Reanimation werfen das Problem der exakten Feststellung des Todeszeitpunkts auf. In der Vergangenheit galt der unumkehrbare Atem- und Herzstillstand als Kriterium für den Eintritt des Todes. Die Vervollkommnung der Reanimationstechnologien hat es allerdings ermöglicht, diese lebenswichtigen Funktionen über eine längere Zeitspanne künstlich aufrechtzuerhalten. Der Tod verwandelt sich somit in einen Vorgang des Sterbens, der von der Entscheidung des Arztes abhängig ist, was die gegenwärtige Medizin vor qualitativ neue Verantwortlichkeiten stellt.
In der Heiligen Schrift wird der Tod als das Scheiden der Seele vom Körper beschrieben (Ps 146.4 / Original: 145.4, Lk 12.20). So kann von einer Fortsetzung des Lebens die Rede sein, solange der Organismus insgesamt funktionsfähig bleibt. Eine unter Einsatz künstlicher Methoden erreichbare Verlängerung des Lebens kann, wenn de facto nur noch einzelne Organe funktionieren, nicht als verpflichtende und in jedem Fall wünschenswerte Aufgabe der Medizin angesehen werden. Das Hinausschieben der Todesstunde verlängert bisweilen lediglich das Leiden des Kranken, wodurch er seines Rechts auf ein würdiges, „ehrenhaftes und friedliches» Lebensende beraubt wird, um das die orthodoxen Christen Gott, den Herrn, im Gottesdienst bitten. Wenn sich die aktive Therapie nicht mehr als wirksam erweist, soll sie durch palliative Hilfe (Anästhesie, Pflege, soziale und psychologische Unterstützung) abgelöst werden und ebenso durch pastorale Fürsorge. Dies zielt insgesamt auf die Sicherung eines natürlichen und von Barmherzigkeit und Liebe begleiteten wahrhaft menschlichen Lebensendes.
Das orthodoxe Verständnis von einem ehrenhaften Tod beinhaltet die Vorbereitung auf den Lebensabschluß, der als eine geistig gewichtige Etappe im Leben eines Menschen angesehen wird. Der von christlicher Liebe umgebene Kranke kann in den letzten Tagen seines irdischen Daseins unter dem Eindruck eines erneuten gewissenhaften Nachdenkens über den zurückgelegten Lebensweg und der reuigen Rechenschaft vor der Ewigkeit segensreiche Änderungen in sich verspüren. Für die Angehörigen des Sterbenden sowie die medizinisch Tätigen hingegen bedeutet die mit Nachsicht und Geduld getragene Sorge für den Kranken die Gelegenheit, Gott Selbst zu dienen, gemäß den Worten des Erlösers: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan» (Mt 25.40). Das Verheimlichen von Informationen über den schweren Zustand des Patienten unter dem Vorwand, dessen seelisches Wohlbefinden zu erhalten, nimmt dem Sterbenden nicht selten die Möglichkeit, sich bewußt auf das Lebensende vorzubereiten und aus der Teilnahme an den Kirchensakramenten geistigen Trost zu schöpfen; darüber hinaus sät es auch Mißtrauen in seinen Beziehungen zu den Angehörigen wie den Ärzten.
Die dem Tod vorausgehenden physischen Leiden werden durch den Einsatz schmerzmindernder Methoden nicht immer effektiv beseitigt. Im Bewußtsein dessen wendet sich die Kirche in solchen Fällen an Gott mit der Bitte: „Erlöse deinen Knecht von diesem unerträglichen Leiden und der bitteren Ohnmacht, schenke ihm die ewige Ruhe und versammle ihn, wo die gerechten Seelen sind» (Trebnik [Meßbuch]: Gebet für den Schwerstleidenden). Allein Gott ist der Gebieter über Leben und Tod (1 Sam 2.6). „In seiner Hand ruht die Seele allen Lebens und jeden Menschenleibes Geist» (Ijob 12.10). Deshalb lehnt es die Kirche — in Treue zu Gottes Gebot „Du sollst nicht morden» (Ex 20.13) — ab, die heutzutage in der Gesellschaft weitverbreiteten Versuche der Legalisierung der sogenannten Euthanasie, d.h. der vorsätzlichen Lebensverkürzung von unheilbar Kranken (einschließlich auf deren Verlangen), als moralisch vertretbar anzuerkennen. Das Ersuchen des Kranken um Sterbehilfe ist unter Umständen durch einen momentanen depressiven Zustand bedingt, in welchem der Kranke zu einer richtigen Beurteilung seiner Lage nicht imstande ist.
Die Anerkennung der Legalität der Euthanasie würde die Herabsetzung der Würde und die Vernachlässigung der professionellen Pflichten des Arztes mit sich bringen, der berufen ist, das Leben zu erhalten und nicht zu verkürzen. Das „Recht auf Tod» kann leicht in eine Bedrohung des Lebens derjenigen Patienten umschlagen, denen es für eine medizinische Betreuung an den erforderlichen finanziellen Mitteln fehlt.
Insofern stellt die Euthanasie eine Form des Mordes oder Selbstmordes dar, je nachdem, ob der Patient daran mitwirkt. Im letzteren Fall unterliegt die Euthanasie den geltenden kirchenrechtlichen Regeln, nach denen die mutwillige Selbsttötung, desgleichen die Beihilfe bei deren Durchführung als schwere Sünde gelten. Dem vorsätzlichen Selbstmörder, der „sich zu diesem Schritt aus menschlicher Verletzung oder aus anderen, im Kleinmut wurzelnden Gründen entschlossen hat», wird weder eine christliche Beisetzung noch eine Seelenmesse zuteil (Regel Nr. 14 Timotheos von Alexandrien). Sollte der Selbstmörder sich in einem Zustand „außer sich» das Leben genommen haben, mit anderen Worten während eines Anfalls von seelischer Krankheit, liegt die Entscheidung über das kirchliche Gebet für ihn — entsprechend der Klärung des Falls — im Ermessen des amtierenden Bischofs. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, daß die Schuld des Selbstmörders nicht selten auch seine Angehörigen trifft, die nicht imstande waren, tätiges Mitleid und Barmherzigkeit zu zeigen. Die Kirche ruft zusammen mit den Aposteln dazu auf: „Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen» (Gal 6.2).
XII.9. Die Heilige Schrift und die Lehre der Kirche verurteilen eindeutig homosexuelle Beziehungen, in denen sie eine lasterhafte Verkehrung der gottgegebenen Nlatur des Menschen erblicken.
„Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Greueltat begangen» (Lev 20.13). Die Bibel berichtet über die schwere Strafe, die Gott, gemäß der Auslegung der Heiligen Väter, namentlich wegen der Sünde der Männerliebe über die Bewohner von Sodom verhängte (Gen 19.1-29). Bei der Beschreibung des moralischen Zustands der heidnischen Welt bezeichnet der Apostel Paulus die homosexuellen Beziehungen als die „schändlichsten» und „unzüchtigsten» „Leidenschaften», die den menschlichen Körper besudeln. „Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung» (Rom 1.26-27). „Täuscht euch nicht! (…) weder Ehebrecher noch Lustknaben (…) werden das Reich Gottes erben», schrieb der Apostel dem Volk im verderbten Korinth (1 Kor 6.9-10). Die Überlieferung der Heiligen Väter verurteilt eindeutig alle in Frage kommenden Erscheinungsformen der Homosexualität. Die „Lehre der zwölf Apostel», die Werke der Heiligen Basilius des Großen, Johannes Chrysostomus, Gregor von Nyssa, des hl. Augustinus und nicht zuletzt die Kanones des hl. Johann des Fastenden bringen jdie unveränderte Lehre der Kirche zum Ausdruck: die homosexuellen Beziehungen sind sündhaft und unter Strafe zu stellen. Menschen, die hierin verstrickt sind, dürfen die Priesterweihe nicht empfangen (Regel Nr. 7 Basilius der Große, Regel Nr. 4 Gregor von Nyssa, Regel Nr. 30 Johann der Fastende). In seiner An sprache an die durch die Sünde der Sodomie Befleckten rief der hl. Maximos der Grieche aus: „Besinnt euch darauf, Verfluchte, was für einem widerwärtigen , Vergnügen ihr frönt! (…) Bemüht euch, so bald wie möglich von diesem häßlichsten und unzüchtigsten Vergnügen abzulassen und es zu hassen, und schlagt jene, die dessen Unschuld behaupten, mit Kirchenbann, als Gegner des Evangeliums Christi des Erlösers und als Verderber seiner Lehre. Läutert euch durch wahrhaftige Reue, heiße Tränen und Almosen nach Kräften sowie durch reines Gebet (…). Schmäht aus eurer ganzen Seele dieses Unheil, auf daß ihr nicht Söhne der Verdammnis und des ewigen Todes werdet.»
Die Diskussion über die Stellung der sogenannten sexuellen Minderheiten in der heutigen Gesellschaft tendiert dazu, die Homosexualität nicht als Sexualinversion, sondern als eine unter anderen „sexuellen Orientierungen» mit gleichem Recht auf öffentliche Äußerung und Achtung zu betrachten. Es wird ins Feld geführt, daß das homosexuelle Verlangen durch eine individuelle natürliche Veranlagung bedingt sei. Die Orthodoxe Kirche geht von der unabänderlichen Überzeugung aus, daß die von Gott gestiftete Ehegemeinschaft zwischen Mann und Frau den sittenwidrigen Erscheinungsformen der Sexualität nicht gleichgestellt werden darf. Sie hält die Homosexualität für eine sündhafte Entstellung der menschlichen Natur, die durch geistig-spirituelle Anstrengungen, welche eine Heilung sowie persönliches Wachstum des Menschen hervorbringen, bezwungen wird. Die homosexuellen Neigungen sind, wie auch andere den abtrünnigen Menschen quälende Leidenschaften, zu überwinden durch die Sakramente, durch Gebet, Fasten und Buße, durch das Lesen der Heiligen Schrift und der Werke der Heiligen Väter wie auch durch die christliche Gemeinschaft mit gläubigen Menschen, die geistige Hilfe zu leisten bereit sind.
Neben der Wahrnehmung ihrer pastoralen Verantwortung für Menschen mit homosexueller Neigung, widersetzt sich die Kirche entschieden jedwedem Versuch, diese sündhafte Tendenz als „Norm», geschweige denn als Grund zu Stolz und als nachahmenswürdiges Beispiel darzustellen. Dies ist auch der Grund dafür, daß die Kirche jede Propaganda zugunsten der Homosexualität verurteilt. Ohne jemandem das Recht auf Leben, Achtung vor der persönlichen Würde sowie Teilnahme an den gesellschaftlichen Angelegenheiten abzusprechen, fordert die Kirche zugleich, daß Personen, die eine homosexuelle Lebensführung propagieren, keine Berechtigung erhalten, sich auf den Gebieten der Bildung, der Erziehung und sonstiger Arbeit mit Kindern und Jugendlichen beruflich zu betätigen oder leitende Positionen in der Armee und den Besserungsanstalten innezuhaben.
Die Verkehrung menschlicher Sexualität schlägt sich zuzeiten im schmerzhaften Gefühl der Zugehörigkeit zum entgegengesetzten Geschlecht nieder, was in einen Versuch zur Geschlechtsumwandlung (Transsexualität) mündet. Das Streben danach, sich der Zugehörigkeit zu dem vom Schöpfer gegebenen Geschlecht zu verweigern, kann für die weitere Entwicklung der Persönlichkeit äußerst verderbliche Folgen haben. Die „Geschlechtsumwandlung» mittels hormonaler Beeinflussung und Vornahme eines chirurgischen Eingriffs bewirkt in vielen Fällen nicht die Lösung psychischer Probleme, sondern deren Verschärfung, indem sie zur Auslösung einer tiefen inneren Krise führt. Die Kirche kann eine solche „Auflehnung gegen den Schöpfer» nicht gutheißen und eine künstliche Umwandlung der Geschlechtszugehörigkeit nicht als rechtens anerkennen. Wenn die „Geschlechtsumwandlung» einer Person vor ihrer Taufe vollzogen worden ist, so darf sie — jedem anderen Sünder gleich — zu diesem Sakrament zugelassen werden, jedoch wird sie von der Kirche als ihrem ursprünglich angeborenen Geschlecht zugehörig getauft. Die Priesterweihe sowie die kirchliche Trauung bleiben diesem Menschen verwehrt.
Die Transsexualität muß aber von der falschen Identifikation der Geschlechtszugehörigkeit unterschieden werden, die in früher Kindheit als Ergebnis eines ärztlichen Fehlurteils aufgrund einer pathologischen Entwicklung der Geschlechtsmerkmale erfolgt ist. In diesem Fall hat die chirurgische Korrektur nicht den Charakter einer Geschlechtsumwandlung.
XIII. Die Kirche und Fragen der Ökologie
XIII.1. Die Orthodoxe Kirche ist im Bewußtsein ihrer Verantwortung für das Schicksal der Welt angesichts der durch die gegenwärtige Zivilisation hervorgerufenen Probleme zutiefst besorgt. Einen wichtigen Platz unter ihnen nehmen die Probleme der Ökologie ein. Dem Antlitz der Erde werden heute Schäden in planetarischen Maßstäben zugefügt. Betroffen sind das Erdinnere, der Boden, das Wasser, die Luft, die tierische und die pflanzliche Welt. Unsere Umwelt ist in der Tat vollständig in die Lebensversorgung des Menschen einbezogen, der keine Genügsamkeit mehr kennt hinsichtlich der Vielfalt ihrer Gaben, sondern sich unaufhaltsam ganze Ökosysteme zunutze macht. Die Tätigkeit des Menschen, die das Ausmaß biosphärischer Vorgänge erreicht, entfaltet sich immer mehr dank der beschleunigten Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Die weltweite Verschmutzung der Umwelt durch Industrieabfälle, die Fehler der Agrartechnik, die Rodung der Wälder und die Bodenerosion führen zum Ersticken der biologischen Aktivität sowie zum fortschreitenden Schrumpfen der genetischen Vielfalt des Lebens. Die nichtregenerierbaren Mineralressourcen des Erdinneren werden erschöpft, die Vorräte an Trinkwasser nehmen ab. Eine erhebliche Anzahl von Schadstoffen wird erzeugt, von denen viele den natürlichen Kreislauf belasten und sich in der Biosphäre ansammeln. Das ökologische Gleichgewicht ist gestört; der Mensch hat zu gewärtigen, daß in der Natur irreversible zerstörerische Prozesse in Gang gesetzt werden, die sogar zum Schwinden der natürlichen Regenerationskraft führen.
Das alles erfolgt vor dem Hintergrund eines beispiellosen und ungerechtfertigten Wachstums des öffentlichen Verbrauchs in den hochentwickelten Ländern, in denen das Streben nach Überfluß und Luxus zur Lebensnorm erhoben worden ist. Diese Situation verhindert die gerechte Verteilung der natürlichen Ressourcen, die Gemeineigentum der Menschheit sind. Die Konsequenzen der Umweltkrise haben sich nicht nur für die Natur, sondern in gleichem Maße für den organisch vollständig mit ihr verbundenen Menschen als schmerzlich erwiesen. Infolge dessen steht die Erde am Rand einer globalen ökologischen Katastrophe.
XIII.2. Die Wechselwirkungen zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Welt wurden bereits in vorhistorischen Zeiten gestört, was im Sündenfall des Menschen und seiner Entfremdung von Gott seine Urheberschaft hat. Die in der Seele des Menschen aufkeimende Sünde gereichte nicht nur ihm, sondern auch seiner gesamten Lebenswelt zum Schaden. „Die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen», schreibt der Apostel Paulus, „nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat; aber zugleich gab er ihr Hoffnung: Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt» (Rom 8.20-22). Wie in einem Spiegel wird in der Natur das erste menschliche Verbrechen sichtbar. Die Saat der Sünde, die im Herzen des Menschen aufging, wuchs — gemäß dem Zeugnis der Heiligen Schrift — als „Dornen und Disteln» (Gen 3.18) auf der Erde. Die vollkommene organische Einheit zwischen dem Menschen und der Welt um ihn her, die bis zum Sündenfall existiert hatte, war von nun an nicht mehr möglich (Gen 2.19-20). In ihren Beziehungen zur Natur, die zunehmend den Charakter des Verbrauchens annahmen, ließen sich die Menschen immer häufiger von selbstsüchtigen Erwägungen leiten. Langsam entschwand ihrem Gedächtnis, daß Gott der alleinige Herr über die Erde war (Ps 24.1 / Original: 23.1), Dem „der Himmel, (…) die Erde und alles, was auf ihr lebt» (Dtn 10.14) gehören, während der Mensch, wie der hl. Johannes Chrysostomus bekundet, lediglich der „Hausverwalter» ist, dem der Reichtum der niederen Welt anvertraut wurde. Dieser Reichtum, der — nach den Worten des gleichen Heiligen — in „Luft, Sonne, Wasser, Land, Himmel, Meer, Licht und Sternen» besteht, wurde von Gott „unter alle gleichmäßig aufgeteilt, gleich der Aufteilung unter Brüdern». Die „Herrschaft» über die Natur und die „Unterwerfung» der Eroe (Gen 1.28), mit welchen der Mensch beauftragt ist, ist dem Ratschluß Gottes zufolge nicht mit einer uneingeschränkten Freiheit gleichzusetzen. Dies bedeutet lediglich, daß der Mensch in seiner Eigenschaft als Träger des Bildes des himmlischen Hausherrn gemäß Gregor von Nyssa berufen ist, von seiner königlichen Würde nicht durch Herrschaft und Gewalt über die Natur, sondern vielmehr durch „Bebauen» und „Hüten» (Gen 2.15) des majestätischen Reichs der Natur, für welches er vor Gott die Verantwortung trägt, Zeugnis abzulegen.
XIII.3. Die Umweltkrise fordert von uns, unser Verhältnis zur Umwelt einer Revision zu unterziehen. Gegenwärtig richtet sich gegen die Auffassung von der Herrschaft des Menschen über die Natur sowie der daraus folgenden Konsumhaltung eine immer lauter werdende Kritik. Die Einsicht, daß der Preis zu hoch ist, den die moderne Gesellschaft für die Güter der Zivilisation zu entrichten hat, weckt den Widerstand gegen wirtschaftlichen Egoismus. So werden etwa Versuche gemacht, umweltschädliche Tätigkeiten zu kennzeichnen. Parallel dazu werden ein Schutzsystem konzipiert und die Wirtschaftsmethoden überprüft, ferner werden auch Anstrengungen unternommen, energiesparende Technologien und abfallfreie Produktionsverfahren, die den natürlichen Stoffwechsel nicht belasten, zu entwickeln. Die Umweltethik gewinnt zunehmend an Bedeutung. Das sich aus ihr ergebende gesellschaftliche Bewußtsein ist gegen die konsumorientierte Lebensweise gerichtet, verlangt moralische und rechtliche Verantwortung für die der Natur beigebrachten Schäden und setzt sich für die Einführung ökologischer Bildung und Erziehung sowie für vereinte Bemühungen um Umweltschutz auf der Basis einer breit angelegten internationalen Zusammenarbeit ein.
XIII.4. Die Orthodoxe Kirche hegt eine hohe Wertschätzung für die auf Überwindung der Umweltkrise gerichteten Anstrengungen und ruft zu tatkräftiger Zusammenarbeit in öffentlichen Aktionen auf, die sich dem Schutz der Schöpfung Gottes widmen. Gleichzeitig vertritt die Kirche die Meinung, daß solche Bemühungen noch fruchtbarer sein könnten, wenn die Grundlagen der Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur nicht nur einen rein humanitären, sondern auch einen christlichen Charakter trügen. Eines der wichtigsten Ausgangsprinzipien der Kirche in den Fragen der Ökologie stellt das Prinzip der Einheit und Ganzheitlichkeit der von Gott geschaffenen Welt dar. Die Orthodoxie betrachtet die Natur um uns herum nicht als eine nur für sich existente, geschlossene Struktur. Die pflanzliche, tierische und menschliche Welt stehen in Wechselbeziehung zueinander. Unter christlichen Gesichtspunkten ist die Natur nicht ein Reservoir von Ressourcen zur selbstbezogenen und verantwortungslosen Ausbeutung, sondern ein Haus, in welchem der Mensch nicht der Hauseigentümer, sondern der Hausverwalter ist, oder auch ein Tempel, in welchem er ein Priester ist, der jedoch nicht der Natur, sondern dem einen Schöpfer dient. Dem Verständnis von der Natur als Tempel liegt die Idee des Theozentrismus zugrunde: Gott, der „allen das Leben, den Atem und alles gibt» (Apg 17.25), ist die Quelle allen Seins. Deshalb eignet dem Leben in der Gesamtheit seiner Erscheinungsformen ein heiliger Charakter, denn es ist Geschenk Gottes, dessen Schädigung eine Anmaßung nicht nur gegenüber der göttlichen Schöpfung darstellt, sondern auch gegenüber dem Herrn Selbst.
XIII.5. Die Umweltprobleme sind wesentlich anthropologisch bedingt, da ihr Urheber der Mensch ist und nicht die Natur. Aus diesem Grund sind die Antworten auf viele Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Umweltkrise erheben, nicht in den Bereichen der Wirtschaft, der Biologie, der Technologie oder der Politik zu suchen, sondern liegen in der menschlichen Seele. Die Natur verändert sich nicht oder stirbt nicht infolge immanenter Vorgänge, sondern beugt sich der Einwirkung des Menschen. Dessen seelischer Zustand spielt eine entscheidende Rolle, schlägt dieser sich doch in der Umwelt nieder, sowohl durch Vornahme als auch durch Unterlassen äußerer Eingriffe. Die Geschichte der Kirche kennt viele Beispiele, die bezeugen, daß die Liebe der christlichen Asketen und Heiligen zur Natur, ihr Gebet für die uns umgebende Welt sowie ihr Mitleid mit den Geschöpfen eine in höchstem Maße segensreiche Wirkung auf die Lebewesen entfaltet haben.
Die Wechselbeziehungen zwischen Anthropologie und Ökologie offenbaren sich mit großer Klarheit in unseren Tagen, da die Welt einer doppelten Krise -einer geistig-spirituellen wie einer ökologischen — ausgesetzt ist. Gegenwärtig ist sich der Mensch des Charakters des Lebens als eines Geschenks Gottes bisweilen nicht gewahr, mitunter ebensowenig des Sinns des Daseins, welches oft als rein physisches Sein begriffen wird. Einer solchen Auffassung zufolge wird die Natur nicht mehr als Haus, noch weniger als Tempel wahrgenommen, sondern sie wird lediglich zu einem „Wohnraum». Die geistig erniedrigte Person führt auch die Erniedrigung der Natur herbei, ist sie doch nicht in der Lage, einen verklärenden Einfluß auf die Welt auszuüben. Die weitreichenden technischen Möglichkeiten erweisen sich für die von der Sünde geblendete Menschheit ebenfalls nicht als hilfreich, da sie wegen ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem^inn, dem Geheimnis und dem Wunder des Lebens keinen wahren Nutzen erbringen, sondern vielmehr auch heillose Auswirkungen haben können. Bei dem Menschen, dessen Handlungen nicht auf ein moralisches Ziel hin orientiert sind, löst die technische Machbarkeit in der Regel utopische Hoffnungen auf unbegrenzte Möglichkeiten des menschlichen Verstandes sowie auf die Macht des Fortschritts aus.
Unter den Bedingungen der geistig-spirituellen Krise ist eine vollständige Überwindung der ökologischen Krise nicht denkbar. Diese Feststellung bedeutet nicht, daß die Kirche dazu aufriefe, Umweltschutzmaßnahmen zu beschneiden. Jedoch verbindet sie die Hoffnung auf eine positive Veränderung der Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur mit dem Streben der Gesellschaft nach geistiger Wiedergeburt. Die anthropogene Basis der Umweltproblematik zeigt, daß wir dazu neigen, unsere Umwelt im Einklang mit unseren inneren Bedürfnissen zu verändern, desgleichen sollte die Verwandlung der Natur ihren Ausgang bei der Verwandlung der Seele nehmen. Nach Überzeugung des hl. Maxim des Bekenners kann der Mensch die Erde nur dann in ein Paradies verwandeln, wenn er das Paradies in sich selbst trägt.
XIV. Weltliche Wissenschaft, Kultur und Bildung
XIV.1. Das Christentum hat durch die Überwindung heidnischer Vorurteile die Natur entzaubert und so einen eigenen Beitrag zur Entstehung der Naturwissenschaft geleistet. Mit der Zeit sind sowohl die Natur- als auch die Humanwissenschaften ein unverzichtbarer Bestandteil der Kultur geworden. Zum Ende des 20. Jahrhunderts sind die Wissenschaft und die Technik angesichts ihrer beeindruckenden Ergebnisse sowie ihres allseitigen Einflusses auf unser Leben in der Tat zu einem maßgeblichen Seinsfaktor der Zivilisation geworden. Gleichzeitig haben die Folgen der Entwicklung von Wissenschaft und Technik, ungeachtet des ursprünglichen Beitrags des Christentums zur Herausbildung der wissenschaftlichen Tätigkeit, unter dem Einfluss säkularer Ideolodien ernsthafte Befürchtugen ausgelöst. Die ökologische und andere Krisen, die die Welt von heute heimsuchen, lassen zunehmend drängendere Zweifel über den eingeschlagenen Weg aufkommen. Das wissenschaftlich-rechtliche Niveau der modernen Zivilisation ermöglicht es, daß verbrecherische Handlungen einer unbedeutenden Gruppe von Menschen innerhalb nur weniger Stunden die Welt in eine globale Katastrophe stürzen könnten, infilge derer alle höheren Lebewesen unwiderrufbar dem Vernichtungstod zum Opfer fallen würden.
Aus christlicher Sicht resultieren diese Folgen aus einer trügerischen Grundauffassung, die auf dem gegenwärtigen Verständnis von wissenschaftlich-technischer Entwicklung basiert. Sie äußert sich in der apriorischen Annahme, daß diese Entwicklung durch keinerlei moralische, philisophische oder religiöse Vorbehalte eingeschränkt werden dürfe. Mit einer solchen Art von „Freiheit» liefert sich die wissenschaftlich-technische Entwicklung allerdings der Macht menschlicher Leidenschaften aus, insbesondere der Eitelkeit, des Stolzes sowie der Gier nach größtmöglichem Komfort, was die Zerstörung der geistigen Harmonie des Lebens mit allen damit verbundenen negativen Folgen nach sich zieht. Um das eigentlich menschliche Leben zu sichern, ist daher heute mehr denn je eine Rückbesinnung auf die verlorengegangene Verbindung der wissenschaftlichen Kenntnis mit den religiösen, geistigen und sittlichen Werten von kaum zu überschätzender Bedeutung.
Die Notwendigkeit einer solchen Verbindung resultiert auch daraus, daß ein wesentlicher Teil der Menschen nicht aufgibt, an die Allmacht zu glauben. Dies ist teilweise der Tatsache geschuldet, daß einige der sich zum Atheismus bekennender Denker des 18. Jahrhunderts einen entschiedenen Gegensatz zwischen der Wissenschaft und der Religion behauptet haben. Nichtsdestoweniger ist es allgemein bekannt, daß zu allen Zeiten, einschließlich der heutigen, viele der herausragendsten Wissenschaftler religiöse Menschen waren und sind. Bei einem fundamentalen Gegensatz zwischen Religion und Wissenschaft wäre das nicht möglich. Die wissenschaftliche und die religiöse Erkenntnis haben einen gänzlich verschiedenen Charakter. Ihre Ausgangsprämissen, Ziele, Aufgaben sowie Methoden sind entsprechend anders. Diese Sphären können sich berühren oder überschneiden, jedoch nicht einander befehden. Zum einen sind doch in der Naturwissenschaft keine atheistischen oder religiösen, sondern mit der Wahrheit mehr oder weniger übereinstimmende Theorien enthalten. Zum anderen befaßt sich die Religion nicht mit Fragen der Materie.
Michail W. Lomonossow schrieb zu Recht: die Wissenschaft und die Religion „können nicht miteinander im Streit liegen (…), außer eine von ihnen würde aus Eitelkeit und Prahlerei ihre Genialität verkünden und so eine Feindschaft vom Zaun brechen». Den gleichen Gedanken sprach auch der hl. Filaret von Moskau aus: „Der Glaube an Christus steht dem wahrhaften Wissen nicht entgegen, weil er mit der Unwissenheit nicht verbündet ist.» Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist auch der Fehler, die Religion und die sogenannte wissenschaftliche Weltanschauung einander entgegenzusetzen. Ihrer Natur nach nehmen lediglich die Religion und die Philosophie weltanschauliche Funktionen wahr, was ansonsten weder einer einzelnen speziellen Wissenschaft noch der konkreten wissenschaftlichen Kenntnis im Ganzen zukommt. Die Reflexion über die wissenschaftlichen Erkenntnisse sowie deren Einbezighung in das weltanschauliche System kann innerhalb einer weiten Bandbreite zwischen der vollkommenen Religiosität einerseits und dem unverhüllten Atheismus andererseits geschehen.
Obwohl in der Wissenschaft ein Weg zur Erkenntnis Gottes liegt (Rom 1.19-20), sieht die Orthodoxie in ihr ein natürliches Instrument zum Aufbau einer guten Ordnung des irdischen Lebens, welches allerdings mit höchster Achtsamkeit anzuwenden ist. Die Kirche warnt den Menschen vor der Versuchung, in der Wissenschaft einen von moralischen Prinzipien vollkommen losgelösten Bereich zu sehen. Die heutigen Errungenschaften auf verschiedenen Gebieten, inklusive der Physik der Elementarteilchen, der Chemie und der Mikrobiologie, zeigen, daß diese von Grund auf ein zweischneidiges Schwert sind, das dem Menschen sowohl zum Segen gereichen als auch das Leben kosten kann. Durch Einhaltung der biblischen Normen des Lebens wird eine Erziehung der Person möglich, so daß die erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht zu bösen Zwecken mißbraucht würden. Deshalb sind die Kirche und die weltliche Wissenschaft zur Zusammenarbeit im Namen der Rettung des Lebens sowie der ihm angemessenen Ordnung aufgerufen. Die Zusammenarbeit unter ihnen trägt zu einer gesunden und schöpferischen Atmosphäre im geistigintellektuellen Bereich bei, was wiederum der Schaffung optimaler Forschungsbedingungen förderlich ist.
Einen herausragenden Platz nehmen die Geisteswissenschaften ein, die ihrem Charakter nach mit den Bereichen der Theologie, der Kirchengeschichte und des kanonischen Rechts untrennbar verknüpft sind. Wohl begrüßt die Kirche die Arbeiten der weltlichen Wissenschaftler in diesem Bereich und erkennt den Stellenwert der humanitären Studien an, dennoch erachtet sie das durch diese Forschungen bisweilen entworfene rationale Weltbild als nicht vollständig und allumfassend. Die religiöse Weltanschauung kann als Quelle der Wahrheitserkenntnis und des Verständnisses von Geschichte, Ethik und vielen anderen humanitären Wissenschaften, die jede Voraussetzung und jedes Recht besitzen, im System der weltlichen Bildung und Erziehung sowie in der Organisation des gesellschaftlichen Lebens vertreten zu sein, nicht verworfen werden. Einzig die Übereinstimmung zwischen der geistig-spirituellen Erfahrung einerseits und der wissenschaftlichen Erkenntnis andererseits macht das Wissen vollkommen. Kein gesellschaftliches System kann als harmonisch bezeichnet werden, solange die säkulare Weltanschauung das Monopol für die Verkündung öffentlich bedeutsamer Beurteilungen inne hat. Bedauerlicherweise bleibt die Gefahr einer Ideo-logisierung der Wissenschaft bestehen, für die im 20. Jahrhundert die Völker der Erde einen hohen Preis entrichten mußten. Eine solche Ideologisierung kann im Bereich der Sozialwissenschaften, sofern sie staatlichen Programmen und politischen Projekten zugrundegelegt werden, äußerst gefährliche Implikationen zeitigen. Indem sie sich der ideologischen Vereinnahmung der Wissenschaft widersetzt, führt die Kirche zugleich einen wichtigen Dialog mit den Geisteswissenschaftlern.
In seinen unergründlichen Tiefen ist der Mensch als Bild und Ebenbild des Unbegreiflichen Schöpfers frei. Die Kirche warnt vor Versuchen, die Errungenschaften von Wissenschaft und Technik zur Ausübung einer Kontrolle über die innere Welt der Persönlichkeit, zur Herstellung jedweder suggestiver Techniken oder zur Manipulation des menschlichen Bewußtseins oder Unterbewußtseins einzusetzen.
XIV.2. Das lateinische Wort cultura („Anbau», „Pflege», „Bildung», „Entwicklung») stammt aus dem Wort cultus („Verehrung», „Huldigung», „Kult»). Das verweist auf die religiösen Wurzeln der Kultur. Als Gott den Menschen schuf, setzte Er ihn in das Paradies und befahl ihm, Seine Schöpfung zu bebauen und zu hüten (Gen 2.15). Die Kultur im Sinne der Erhaltung der Umwelt sowie der Sorge um diese ist ein göttlicher Auftrag an den Menschen. Nach der Vertreibung aus dem Paradies, sah der Mensch sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, um sein Überleben zu kämpfen; so kam es zur Herstellung von Arbeitsgeräten, zu Städtebau sowie landwirtschaftlicher Tätigkeit und den Künsten. Die Kirchenväter und -lehrer hoben die ursprüngliche göttliche Quelle der Kultur hervor. Insbesondere Klemens von Alexandrien faßte sie als Frucht der schöpferischen Arbeit des Menschen unter der Leitung des Logos auf: „Die alles durchwaltende Vernunft entfaltet sich in allen weltlichen Wissenschaften und Künsten, in allem, was der menschliche Verstand erreichen kann (…), stammt doch jede Kunst und jedes Wissen von Gott.» Und der hl. Gregor der Theologe schrieb: „So wie in einer kunstvollen musikalischen Harmonie jede Saite einen anderen Klang hervorbringt, mal einen hohen, mal einen tiefen, so hat auch hier der Künstler und das Schöpfer-Wort, obwohl er den verschiedenen Berufen und Künsten verschiedene Erfinder zugeteilt hat, alles zur allgemeinen Verfügung gestellt, um uns durch die Bande der Gemeinschaft und der Menschenliebe enger miteinander zu verbinden und unser Leben auf eine höhere Zivilisationsstufe erheben.»
Die Kirche hat vieles, was die Menschheit in den Bereichen der Kunst und Kultur hervorgebracht hat, übernommen, nachdem sie die Früchte der schöpferischen Arbeit im Feuerofen der religiösen Erfahrung geläutert und von den der Seele abträglichen Elementen gereinigt hat, um sie so den Menschen zu geben. Sie gibt verschiedenen Teilbereichen der Kultur ihren Segen und fördert nach Kräften ihre Entfaltung. Der orthodoxe Ikonenmaler, Dichter, Philosoph, Musiker, Architekt, Schauspieler und Schriftsteller, sie alle greifen auf die Mittel der Kunst zurück, um die Erfahrung geistiger Erneuerung zum Ausdruck zu bringen, die sie für sich erworben haben und nun anderen vermitteln wollen. Die Kirche macht es möglich, eine neue Sicht auf den Menschen, seine innere Welt sowie den Sinn seiner Existenz zu gewinnen. Infolgedessen findet die menschliche Kreativität dank der Aufnahme in den Schoß der Kirche zu ihren ursprünglich religiösen Wurzeln zurück. Die Kirche unterstützt die Kultur darin, über die Grenzen der rein irdischen Angelegenheiten hinauszugehen: indem sie ihr den Weg der Läuterung des Herzens sowie der Vereinigung mit dem Schöpfer erschließt, öffnet sie sie für ein Zusammenwirken mit Gott.
Die weltliche Kultur kann Trägerin der Frohen Botschaft sein. Dies ist besonders dann von größter Bedeutung, wenn der Einfluß des Christentums in der Gesellschaft nachläßt oder die weltlichen Gewalten einen offenen Kampf gegen die Kirche entfachen. So waren während der Jahre des staatlich verordneten Atheismus die russische klassische Literatur, Dichtung, Malerei und Musik für viele die nahezu einzige Quelle religiöser Kenntnis. Die kulturellen Traditionen wahren und bereichern die geistige Erbschaft in der sich unaufhaltsam ändernden Welt. Dies trifft auf verschiedene Formen des Schöpferischen zu wie Literatur, darstellende Kunst, Musik, Architektur, Theater und Lichtspieltheater, um einige zu nennen. Für die Predigt von Christus sind alle schöpferischen Ausdrucksweisen geeignet, sofern die Intention des Künstlers von aufrichtiger Frömmigkeit geprägt ist und er von der Treue gegenüber Gott nicht abläßt.
An die Kulturschaffenden richtet die Kirche stets den Aufruf: „Wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist» (Rom 12.2). Zugleich warnt die Kirche: „Liebe Brüder, traut nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind» (1 Joh 4.1). Der Mensch verfügt nicht immer über genügend geistige Scharfsichtigkeit, um die wahre göttliche Eingebung von der ekstatischen „Eingebung», hinter welcher sich oft finstere Kräfte von zerstörerischen Ausmaßen verbergen, zu unterscheiden. Letztere resultiert insbesondere aus der Berührung mit der Welt der Zauberei und der Magie, des weiteren aus der Einnahme von Drogen. Die kirchliche Erziehung hilft dem Menschen, die geistige Sehkraft zu schärfen, die ihn in die Lage versetzt, das Gute vom Bösen, das Göttliche vom Dämonischen zu unterscheiden.
Die Begegnung der Kirche mit der Welt der Kultur führt keineswegs immer zu einer einfach durchführbaren Zusammenarbeit sowie gegenseitigen Bereicherung: „Das Wahre Wort zeigte, als es kam, daß nicht alle Meinungen und nicht alle Lehren gut sind, sondern einige sind gut, andere sind böse» (hl. Justin der Philosoph). Im Rahmen der Anerkennung des allgemein geltenden Rechts auf moralische Beurteilung der Werke der Kultur beansprucht die Kirche ein solches Recht auch für sich. Noch mehr, hierin erblickt sie eine ihr unmittelbar zukommende Pflicht. Ohne auf die ausschließliche Anerkennung kirchlicher Wertmaßstäbe in der weltlichen Gesellschaft und dem Staat zu drängen, ist die Kirche doch von der unbedingten Wahrheit und Erlösungskraft des ihr im Evangelium offenbarten Weges überzeugt. Wenn ein schöpferisches Werk zur moralischen und geistigen Verwandlung der Person beiträgt, so wird es von der Kirche gesegnet. Aber wenn sich die Kultur Gott widersetzt, einen antireligiösen oder inhumanen Charakter annimmt und sich somit in eine Anti-Kultur verkehrt, stellt sich die Kirche ihr entgegen. Eine solche Gegnerschaft bedeutet jedoch nicht den Kampf gegen die Träger dieser Kultur, „denn wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen», sondern sie führt zu einer geistigen Auseinandersetzung mit dem Zweck der Befreiung der Menschen von den zerstörerischen Auswirkungen finsterer Kräfte, der „bösen Geister des himmlischen Bereichs», auf ihre Seelen (Eph 6.12).
Die eschatologische Sehnsucht verbietet es dem Christen, sein Leben vollends mit der Welt der Kultur zu identifizieren, „denn wir haben hier keine Stadt, die bestehenbleibt, sondern wir suchen die künftige» (Hebr 13.14). Der Christ kann in dieser Welt leben und seinem Beruf nachgehen, darf in seiner irdischen Betätigung aber nicht restlos aufgehen. Die Kirche erinnert die Kulturschaffenden daran, daß es ihre Berufung ist, die Seelen der Menschen — einschließlich ihrer eigenen — zu kultivieren und zu versuchen, das durch die Sünde in ihrem Inneren entstellte Bild Gottes wiederherzustellen.
Die Kirche predigt die ewige Wahrheit Christi den Menschen, die unter sich wandelnden historischen Bedingungen leben, und bedient sich hierbei der je vorgegebenen kulturellen Formen, die durch die Zeit, die Nation sowie die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bedingt sind. Die von bestimmten Völkern und Generationen gesammelten Erfahrungen und Erkenntnisse müssen für andere Menschen mitunter neu interpretiert und ihnen auf vertraute und verständliche Weise nahegebracht werden. Keine Kultur darf einen Aus-schließlichkeitsanspruch auf die Auslegung der christlich-geistlichen Botschaft geltend machen. Die wort- und gleichnishaft vermittelnde Sprache der Predigt, ihre Methoden und Mittel sind im Laufe der Geschichte einem natürlichen Wandel ausgesetzt und variieren in Abhängigkeit von nationalen und sonstigen Zusammenhängen.
Dennoch dürfen die wechselhaften Launen der Welt nicht als Grund für die Verwerfung der würdevollen Erbschaft der vergangenen Jahrhunderte, noch weniger für die Preisgabe der kirchlichen Überlieferung ins Feld geführt werden.
XIV.3. Die christliche Tradition bekundete stets ihre Achtung gegenüber der weltlichen Bildung. Zahlreiche Kirchenväter erhielten ihre Bildung an weltlichen Schulen und Akademien und betrachteten die dort gelehrten Wissenschaften für den glaubenden Menschen als unentbehrlich. Der hl. Basilius der Große schrieb, daß die „äußeren Wissenschaften nicht ohne Nutzen» für den Christen sind, der gehalten ist, alles, was der sittlichen Vervollkommnung sowie dem intellektuellen Wachstum förderlich ist, den Wissenschaften zu entlehnen. Nach den Worten des hl. Gregors des Theologen „erkennt jeder, der Vernunft hat, die Belesenheit (paideusin: Bildung) als das für uns erstrangige Gut an. Und nicht nur die vornehmste Gelehrsamkeit unserer selbst, (…) deren Gegenstand zum ersten die Erlösung sowie die Schönheit des innerlich Betrachteten ist, sodann auch die äußere Gelehrsamkeit, die viele Christen infolge ihrer Unwissenheit als hoffnungslos und eitel, gefährlich wie auch gottabgewandt verabscheuen.»
Aus orthodoxer Sicht ist es wünschenswert, religiöse Grundsätze und christliche Werte zu einem grundlegenden Bestandteil des gesamten Bildungssystems zu machen. Nichtsdestoweniger achtet sie, in Befolgung jahrhundertealter Traditionen die weltliche Schule und ist bereit, ihre Beziehungen zu ihr auf der Grundlage der Anerkennung der menschlichen Freiheit zu gestalten. In diesem Zusammenhang betrachtet die Kirche die bewußte Beeinflussung der Schüler und Studenten mit antireligiösen und antichristlichen Ideen und die Geltendmachung eines Monopolanspruchs der materialistischen Weltanschauung als unzulässig (vgl. XIV.1). Die für das 20. Jahrhundert in vielen Ländern typische Lage, in der sich die staatlichen Schulen befanden — nämlich im Dienst einer militant-atheistischen Erziehung -, darf sich nicht wiederholen. Die Kirche ruft dazu auf, die Folgen der atheistischen Kontrolle über das staatliche Bildungssystem zu beseitigen.
Bedauerlicherweise wird in vielen der heutigen Lehrveranstaltungen zur Geschichte die Rolle der Religion bei der Ausformung des geistig-geistlichen Bewußtseins der Völker nicht gebührend gewürdigt. Die Kirche hält die Erinnerung an den Beitrag des Christentums zur Schatzkammer der Welt- und Nationalkultur unablässig wach. Die orthodoxen Gläubigen bedauern die Versuche einer unkritischen Übernahme von Unterrichtsstandards, -program-men und -prinzipien, die von Organisationen stammen, die für ihr negatives Verhältnis zum Christentum generell oder zur Orthodoxie im besonderen bekannt sind. Desgleichen darf die Gefahr des Eindringens okkulter und neuheidnischer Einflüsse wie auch destruktiver Sekten in die weltliche Schule, unter deren Einfluß das Kind sowohl für sich wie auch für die Familie und die Gesellschaft verloren wäre, nicht außer Acht gelassen werden.
Nach kirchlichem Ermessen ist der wahlweise Religionsunterricht an weltlichen Schulen, auf Wunsch der Kinder oder der Eltern, wie auch an den höheren Bildungsstätten segensreich und erforderlich. Die hohe Geistlichkeitsoll in einen Dialog mit der Staatsmacht eintreten, der das Ziel einer verfassungsmäßigen und praktisch wirksamen Verankerung des international verbrieften Rechts der gläubigen Familien auf die religiöse Erziehung und Bildung ihrer Kinder verfolgt. Zu diesem Zweck gründet die Kirche auch orthodoxe allgemeinbildende Einrichtungen, wobei sie sich Unterstützung seitens des Staates erwartet.
Die Schule ist eine Vermittlerin, die den neuen Generationen die im Laufe der vergangenen Jahrhunderte geschaffenen moralischen Werte weiterreicht. Bei dieser Aufgabe ist die Zusammenarbeit zwischen Schule und Kirche gefragt. Bildung — vor allem für Kinder und Jugendliche — dient nicht nur der Weitergabe von Wissen. Das Entfachen der Sehnsucht im Herzen der Jugend nach der Wahrheit, dem unverfälschten Moralempfinden, der Liebe zu den Nächsten und zum Vaterland sowie zu dessen Geschichte und Kultur ist keine geringere, sondern vielleicht sogar eine größere Aufgabe der Schule als die der Wissensvermittlung. Die Kirche ist berufen und danach bestrebt, der Schule in ihrer erzieherischen Mission Beistand zu leisten, hängen doch von dem geistigen und moralischen Antlitz des Menschen sein ewiges Heil und nicht zuletzt die Zukunft der einzelnen Nationen und des gesamten Menschengeschlechts ab.
XV. Die Kirche und die weltlichen Massenmedien
XV. 1. Die Massenmedien spielen in der heutigen Welt eine immer größer werdende Rolle. Die Kirche achtet die Arbeit der Journalisten, die berufen sind, die breiten Bevölkerungsschichten mit Informationen über das aktuelle Weltgeschehen zu versorgen sowie den Menschen Orientierungshilfen in der heutigen komplexen Wirklichkeit zu geben. Diesbezüglich ist es vonnöten, sich ständig dessen gewahr zu sein, daß die Information des Zuschauers, Hörers und Lesers nicht nur auf der festen Treue zur Wahrheit gründet, sondern ebenso auf der Sorge um den moralischen Zustand der Person und der Gesellschaft, was die Vermittlung positiver Ideale einerseits und den Kampf gegen die Verbreitung des Bösen, der Sünde und des Lasters andererseits in sich einschließt. Als unstatthaft gelten die Propaganda von Gewalt, Feindschaft und Haß, von nationalen, sozialen und religiösen Aversionen sowie die sündhafte Ausnutzung menschlicher Instinkte, einschließlich zu kommerziellen Zwecken. Die Massenmedien, die einen weitreichenden Einfluß auf das Publikum ausüben, tragen eine nicht zu unterschätzende Verantwortung für die Erziehung der Menschen, insbesondere der heranwachsenden Generation. Die Journalisten und die Leiter von Massenmedien sollen sich dieser Verantwortung stets bewußt sein.
XV.2. Die belehrende, bildende sowie soziale und friedenstiftende Mission der Kirche ist der zwingende Anlaß für eine Zusammenarbeit mit den weltlichen Massenmedien, die ihre Botschaft in die unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten zu tragen vermögen. Der hl. Apostel Petrus ruft die Christen auf: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt, aber antwortet bescheiden und ehrfürchtig» (1 Petr 3.15-16 / Original: 3.15). Jeder Geistliche oder Laie ist gefordert, den Kontakten zu den weltlichen Massenmedien die gebührende Bedeutung beizumessen, um seelsorglicher und erzieherischer Tätigkeit einen Weg zu bahnen und das Interesse der weltlichen Gesellschaft an den verschiedenen Aspekten des kirchlichen Lebens und der christlichen Kultur zu wecken. Dabei gilt es, bezüglich der Position des konkreten Massenmediums zum Glauben und zur Kirche, seiner moralischen Orientierung wie auch seiner Beziehungen zur Kirchenleitung Weisheit, Verantwortung und Wachsamkeit an den Tag zu legen. Die orthodoxen Laien können im Bereich der weltlichen Massenmedien unmittelbar beruflich tätig sein, wobei sie gefordert sind, christliche moralische Ideale zu predigen und diese in die Tat umzusetzen. Die Journalisten, die die Seelen verderbende Materialien veröffentlichen, sollen mit Strafen nach kirchlichem Recht belegt werden, sofern sie der Orthodoxen Kirche angehören.
Die Kirche verfügt über eigene Kommunikationsmittel, die den Segen der Kirchenleitung empfangen haben, und zwar über jede Art der verschiedenen Massenmedien (Druck-, Rundfunk- und Computermedien), die ihre spezifischen Besonderheiten aufweisen; sie ist sowohl in offiziellen Einrichtungen als auch in den privaten Initiativen der Geistlichen und der Laien anwesend. Gleichzeitig arbeitet die Kirche mittels ihrer Institutionen sowie durch die von ihr bevollmächtigten Personen mit den weltlichen Massenmedien zusammen. Diese Zusammenarbeit wird auf zweierlei Weise durchgeführt, zum einen durch Gewährleistung des Zugangs der Kirche zu den weltlichen Massenmedien in besonderer Form (Sonderbeilagen für Zeitungen und Periodika, spezielle Kolumnen, Fernseh- und Hörfunkreihen, Rubriken), zum anderen durch Beteiligung an verschiedenen Formen öffentlicher Dialoge und Diskussionen (Einzelbeiträge, Rundfunk- und Fernsehsendungen, Interviews, Beratungsgespräche mit Journalisten, Verbreitung von speziell für letztere aufbereitete Informationen, Angebot von Übersichtsmaterialien, auch als Audio- und Videomaterialien wie Bild- und Tonbandaufnahmen, und sonstige Vervielfältigungen).
Die Zusammenarbeit von Kirche und weltlichen Massenmedien schließt gegenseitige Verantwortung mit ein. Die Information, die dem Journalisten geliefert und durch ihn an das Publikum weitergegeben wird, soll wahrheitsgetreu sein. Die durch die Massenmedien verbreiteten Meinungen der Geistlichen und anderer Vertreter der Kirche sollen mit ihrer Lehre und ihren Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Fragen übereinstimmen. Im Falle der Äußerung ausschließlich privater Meinungen soll dies sowohl durch die über das Medium zu Wort kommende Person als auch durch den zuständigen Berichterstatter ausdrücklich zur Kenntnis gebracht werden. Die Zusammenarbeit der Geistlichen wie der kirchlichen Einrichtungen mit den weltlichen Massenmedien soll im Fall der Berichterstattung über gesamtkirchliche Tätigkeiten unter der Leitung der Hohen Geistlichkeit, im Fall der Zusammenarbeit mit den Massenmedien auf regionaler Ebene, die insbesondere mit der Berichterstattung über das diözesane Leben befaßt sind, unter der Leitung der diözesanen Autoritäten erfolgen.
XV.3. In der Ausgestaltung der Beziehungen zwischen der Kirche und den weltlichen Massenmedien kann es unter Umständen zu Meinungsverschiedenheiten, sogar zu ernsthaften Konflikten kommen. Insbesondere können solche Probleme durch ungenaue oder verzerrte Berichterstattung über das kirchliche Leben erwachsen, ebenso durch das Hineinstellen in einen unangemessenen Kontext sowie durch Verwechslung der persönlichen Meinung des Autors oder einer zitierten Person mit der offiziellen kirchlichen Position. Die Schuld an einer eventuellen Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Kirche und den weltlichen Massenmedien liegt bisweilen auch bei den Geistlichen und den Laien selbst, etwa wenn sie Journalisten den Zugang zu Informationen ohne stichhaltige Begründung verwehrt bzw. auf sachliche und loyale Kritik überempfindlich reagiert haben sollten. Probleme dieser Art sollen im Geiste eines friedlichen Dialogs mit dem Ziel behoben werden, Mißverständnisse zu klären und die Zusammenarbeit fortzusetzen.
Gleichzeitig treten auch schwerwiegendere, grundsätzliche Konflikte zwischen der Kirche und den weltlichen Massenmedien auf. Dazu kommt es im Falle der Gotteslästerung, durch Verbreiten sonstiger Formen der Blasphemie, der systematischen und vorsätzlichen Verfälschung von Information über das Leben der Kirche sowie Verleumdung der Kirche und ihrer Angehörigen. Bei Eintritt solcher Konfliktlagen ist die höchste kirchliche Autorität (in Bezug auf die überregionalen Massenmedien) oder der Diözesanbischof (in Bezug auf die regionalen und lokalen Massenmedien) nach erfolgter angemessener Mahnung sowie mindestens einem Verhandlungsversuch berechtigt, folgende Maßnahmen zu ergreifen: Abbruch der Beziehungen zu dem betreffenden Massenkommunikationsmittel bzw. dem Journalisten, Aufruf an die Gläubigen zum Boykott des Mediums, Anrufen der Organe der Staatsgewalt zur Bewältigung des Konflikts, Verhängung kanonischer Strafen über die, die schwere Sünden auf sich geladen haben — sofern sie dem orthodoxen Glauben angehören. Die oben aufgezählten Maßnahmen sind zu dokumentieren und der Gemeinde und der Gesellschaft als Ganzer zur Kenntnis zu geben.
XVI. Internationale Beziehungen. Probleme der Globalisierung und des Säkularismus
XVI.1. Die Völker und Staaten treten in wirtschaftliche, politische, militärische und andere Beziehungen miteinander. Infolgedessen kommt es zur Gründung oder zum Untergang von Staaten, zur Änderung von Grenzen, zu Vereinigung und Zerfall wie auch zum Eingehen oder Aufheben von Bündnissen. Die Heilige Schrift enthält zahlreiche historische Zeugnisse über den Aufbau von internationalen Beziehungen.
Eines der ersten Beispiele für einen Vertrag zwischen zwei Stämmen, den zwischen dem Herrn des Landes, Abimelech, und dem Fremden, Abraham, wird im Buch Genesis beschrieben: „Um jene Zeit sagte(.) Abimelech (…) zu Abraham: Gott ist mit dir bei allem, was du unternimmst. Aber nun schwör mir hier bei Gott, daß du weder mich, noch meinen Thronerben, noch meine Nachfahren hintergehen wirst. Das gleiche Wohlwollen, das ich dir erwiesen habe, sollst du mir erweisen und dem Land, in dem du dich als Fremder aufhältst. Abraham erwiderte: Gut, ich will den Eid leisten. (…) so schlössen beide einen Vertrag» (Gen 21.22-24, 27). Dank verschiedener Verträge wurde die Gefahr von Kriegen und Konfrontationen geringer (Gen 26.26-31, Jes 9.3-27). Gegebenenfalls wurde durch Verhandlungen und die Bekundung guten Willens Blutvergießen abgewendet (1 Sam 25.18-35, 2 Sam 21.15-22). Durch Verträge wurden Kriege beendet (1 Kon 20.26-34). Die Bibel erwähnt militärische Bündnisse (Gen 14.13, Ri 3.12-13; 2 Kon 22.2-29, Jer 37.5-7). Bisweilen wurde militärische Hilfe mit Geld oder anderen materiellen Gütern erkauft (2 Kon 16.7-9; 1 Kon 15.17-20). Das Abkommen zwischen Salomo und Hiram trug den Charakter eines ökonomischen Bündnisses: „Meine Knechte sollen mit deinen Knechten arbeiten. Den Lohn für deine Knechte werde ich dir geben, ganz wie du bestimmst. Du weißt ja selbst, daß wir niemand haben, der so gut Holz fällen kann wie die Leute von Sidon (…). Zwischen Salomo und Hiram herrschte Friede, und sie schlössen miteinander ein Bündnis» (1 Kon 5.20, 26). In Verhandlungen mittels Boten wurde über Fragen wie die Durchquerung fremden Territoriums durch bewaffnete Männer (Num 20.14-17, 21.21-22) und über territoriale Streitigkeiten entschieden (Ri 11.12-28). Gewisse Verträge konnten auch den Übergang von Hoheitsrechten von einem Volk auf ein anderes regeln (1 Kon 9.10-12, 1 Kon 20.34).
Ebenfalls enthält die Bibel die Beschreibung diplomatischer List, zu der zwecks Abwehr eines übermächtigen Feindes Zuflucht genommen wird (Jes 9.3-27; 2 Sam 15.32-37; 16.16-19; 17.1-16). Zuzeiten wurde der Friede erkauft (2 Kon 12.18) oder für ihn Tribut entrichtet. Zweifelsohne war Krieg, von dem zahlreiche Beispiele in den Büchern des Alten Testaments überliefert sind, eines der Mittel der Streit- und Konfliktentscheidung. Daneben sind in der Heiligen Schrift Beispiele von Verhandlungen enthalten, die die Abwendung eines Krieges kurz vor dessen drohenden Ausbruch anstreben (2 Kon 14.9-10). Die zur Zeit des Alten Testaments bestehende Praxis einvernehmlicher Entscheidungsfindung war auf religiös-moralischen Prinzipien gegründet. So wurde sogar der Vertrag mit Einwohnern von Gibeon, der infolge eines Betrugs von seiten letzterer zustande » kam, aufgrund seiner heiligen Formel als gültig anerkannt: „Wir haben ihnen • beim Herrn, dem Gott Israels, einen Eid geleistet. Darum können wir ihnen nichts [ tun» (Jos 9.19). Die Bibel enthält das Verbot des Bündnisschlusses mit den lasterhaften heidnischen Stämmen (Ex 34.15). Allerdings übertraten die alten Juden gelegentlich dieses Gebot. Ebenso wurde oft gegen die verschiedenen Verträge .und Bündnisse verstoßen.
Das christliche Ideal des Verhaltens der Völker und Regierungen im Bereich der internationalen Beziehungen ist in der „Goldenen Regel» enthalten: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!» (Mt 7.12). Indem sie dieses Prinzip nicht nur im privaten, sondern auch im gesellschaftlichen Leben anwenden, sollen die orthodoxen Christen in Erinnerung behalten, daß „Gott nicht in der Macht, sondern in der Wahrheit» ist. Darüber hinaus ist es notwendig, wenn die Gerechtigkeit verletzt wurde, deren Wiederherstellung immer wieder durch Einsatz restriktiver und sogar Gewaltmaßnahmen gegenüber anderen Staaten und Völkern durchzusetzen. Erfahrungsgemäß haben Nationen und Staaten angesichts der sündhaften Verdorbenheit der menschichen Natur praktisch unweigerlich divergierende Interessen, die vornehmlich vom Streben nach Landbesitz, von der Lust an politischer und militärischer Dominanz sowie vom Ziel maximaler Gewinne aus Produktion und Handel diktiert sind. Die aus diesen Zusammenhängen erwachsende Notwendigkeit des Schutzes der Staatsangehörigen erlegt der Bereitschaft der einzelnen Person, ihre eigenen Interessen zugunsten eines fremden Volkes zurücktreten zu lassen, gewisse Einschränkungen auf. Dennoch sind die orthodoxen Christen und ihre Gemeinschaften aufgerufen, sich um die Errichtung solcher internationalen Beziehungen zu bemühen, die dem größtmöglichen Ausmaß an Wohlfahrt und den legitimen Interessen des eigenen Volkes, der angrenzenden Nationen wie auch der gesamten Menschheitsfamilie Genüge tun.
Die Beziehungen zwischen den Völkern und den Staaten sollen auf Frieden, gegenseitige Hilfe und Zusammenarbeit gerichtet sein. Der Apostel Paulus befiehlt den Christen: „Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden» (Rom 12.18). Der hl. Hierarch Filaret von Moskau sprach in seiner Abschlußrede angelegentlich des Friedensvertrags im Jahr 1856: „Erinnern wir uns an das Gesetz und erfüllen wir den Willen des Göttlichen Friedensfürsten: vergessen wir das Böse, vergeben wir die Kränkungen, seien wir in Frieden selbst mit den .Leuten, die den Frieden hassen’ (Ps 120.6 / Original: 119.6), noch mehrmit jenen, die das Ende der Feindschaft anbieten und die Hand zum Frieden reichen.»
Im Bewußtsein der Unabwendbarkeit internationaler Streitigkeiten und Gegensätze in der gefallenen Welt ruft die Kirche die Machthaber dazu auf, danach zu suchen, jeglichem Konflikt auf dem Wege gegenseitig annehmbarer Lösungen zu begegnen. Sie steht auf Seiten der Opfer von Aggression wie von illegitimer und moralisch ungerechtfertigter Ausübung politischen Drucks von außen. Der Einsatz militärischer Gewalt wird von der Kirche als äußerstes Mittel bei der Abwehr bewaffneter Aggression seitens fremder Staaten betrachtet. Eine solche Verteidigung kann — als Hilfestellung — auch von einem Staat, der selbst nicht unmittelbares Ziel eines Angriffs ist, auf Bitte des Angegriffenen geleistet werden.
Ihre Beziehungen zur äußeren Welt bauen die Staaten auf den Prinzipien der Souveränität sowie der territorialen Unversehrtheit auf. Diese Prinzipien betrachtet die Kirche als grundlegend bei der Verteidigung der berechtigten Interessen des Volkes sowie als Eckstein zwischenstaatlicher Verträge, folglich auch des gesamten Völkerrechts. Gleichzeitig jedoch ist es für das christliche Bewußtsein offensichtlich, daß jedwede menschliche Satzung, einschließlich der souveränen Staatsgewalt, nur relativ ist angesichts der Allmacht Gottes. Die Geschichte zeigt, daß der Bestand, die Grenzen und die Formen der Staaten veränderlich sind, da diese sowohl auf territorial-ethnischer Basis als auch kraft ökonomischer, politischer, militärischer u.a. Ursachen gegründet wurden. Ohne den geschichtlichen Stellenwert des ethnisch homogenen Staates in Abrede zu stellen, begrüßt die Orthodoxe Kirche gleichzeitig die freiwillige Einigung der Völker zu einem einheitlichen Organismus sowie die Gründung multiethnischer Staaten, solange in diesen die Rechte einzelner Völker keinen Verletzungen ausgesetzt sind. Gleichzeitig gilt es zu bedenken, daß in der heutigen Welt ein gewisser Widerspruch zwischen den allgemein anerkannten Prinzipien der Souveränität und territorialen Integrität einerseits und dem Bestreben eines Volkes oder eines Teils davon nach staatlicher Unabhängigkeit andererseits besteht. Die aus diesem Gegensatz resultierenden Streitigkeiten und Konflikte sollen auf friedlichem Weg und auf der Grundlage des Dialogs bei möglichst weitgehender Übereinstimmung der beteiligten Seiten gelöst werden. In Erinnerung daran, daß die Einheit Gutes, die Zwietracht Böses ist, begrüßt die Kirche die Tendenzen zur Vereinigung von Ländern und Völkern, insbesondere unter solchen, die ein gemeinsames historisches und kulturelles Erbe besitzen, und unter der Bedingung, daß diese nicht gegen Dritte gerichtet sind. Die Kirche trauert, wenn mit der Auflösung multiethnischer Staaten die historische Gemeinschaft von Menschen zerstört wird, ihre Rechte verletzt werden und großes Leid über ihr Leben kommt. Die Auflösung multinationaler Staaten kann nur in solchen Fällen als gerechtfertigt gelten, in welchen eines der Völker offensichtlich unterdrückt wird oder die Mehrheit der Bewohner des Landes an einem Fortbestand der staatlichen Einheit mit Sicherheit kein Jjateresse bekundet.
Die jüngste Geschichte hat gezeigt, daß die Abspaltung einer Reihe von Staaten Eurasiens einen künstlichen Bruch zwischen Völkern, Familien und beruflichen Gemeinschaften verursacht und in der Praxis zur zwangsweisen Umsiedlung und Vertreibung verschiedener ethnischer, religiöser und sozialer Gruppen geführt hat, was vom Verlust der Heiligtümer der Völker begleitet war. Der Versuch, auf den Trümmern der Bünde ethnisch homogene Staaten zu gründen, geriet zur Hauptantriebskraft der blutigen interethnischen Konflikte, die Osteuropa erschütterten.
Angesichts des oben gesagten soll der Nutzen der Gründung zwischenstaatlicher Bündnisse betont werden, welche die Vereinigung der Aktivitäten im politischen und ökonomischen Bereich, die gemeinsame Verteidigung vor äußerer Bedrohung sowie Hilfeleistungen für Opfer von Aggression zum Ziel haben. In der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wirtschaft und des Handels sollen die gleichen moralischen Regeln Anwendung finden, die auch für die wirtschaftliche und unternehmerische Tätigkeit der Person gelten. Die Zusammenarbeit zwischen den Völkern und Staaten in diesem Bereich soll auf Ehrlichkeit und Gerechtigkeit beruhen sowie auf dem Streben danach, für alle an den gemeinsamen Bemühungen Beteiligten akzeptable Ergebnisse zu erreichen (vgl. XVI.3). Gleichermaßen befürwortet wird die internationale Zusammenarbeit im Kultur-, Wissenschafts-, Bildungs- und Informationsbereich, sofern diese auf der Basis der Gleichberechtigung und gegenseitigen Achtung erfolgt und darauf gerichtet ist, die Erfahrung, das Wissen und die kreativen Errungenschaften jedes daran teilhabenden Volkes zu bereichern.
XVI.2. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben multilaterale zwischenstaatliche Verträge zur Etablierung eines breitgefächerten Systems des Völkerrechts geführt, welches für die Unterzeichnerstaaten der betreffenden Abkommen einen verbindlichen Charakter trägt. Die Staaten haben überdies internationale Organisationen gegründet, deren Beschlüsse für die Mitgliedsstaaten verbindlich sind. Einigen von diesen Organisationen werden von den Regierungen zahlreiche Vollmachten übertragen, die sich auf die wirtschaftliche, politische und militärische Tätigkeit erstrecken und erhebliche Auswirkungen nicht nur auf die internationalen Beziehungen, sondern auch auf das innere Leben der Völker selbst haben. Das Phänomen einer rechtlichen und politischen Regionalisierung und Globalisierung ist zur Wirklichkeit geworden.
Eine solche Entwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen fördert zum einen die Verstärkung der kommerziellen, industriellen, militärischen, politischen und weiteren Zusammenarbeit, deren Notwendigkeit durch die naturgemäße Intensivierung der internationalen Beziehungen sowie durch das Erfordernis einer gemeinsamen Antwort auf die globalen Herausforderungen der Gegenwart diktiert wird. In der Geschichte der Orthodoxie sind Beispiele für eine positive Beeinflussung der Entwicklung regionaler zwischenstaatlicher Beziehungen durch die Kirche enthalten. Die internationalen Organisationen tragen zur Lösung verschiedener Streitigkeiten und Konflikte bei. Zum anderen darf die Gefahr auseinanderstrebender Interessen zwischen dem Willen der Völker und den Entscheidungen internationaler Organisationen nicht unterschätzt werden. Diese Organisationen können zu Instrumenten einer ungerechten Dominanz der starken Länder über die schwachen, der reichen über die armen, der technologisch und informationell fortgeschrittenen über die anderen werden und bei der Umsetzung des Völkerrechts zugunsten der einflußreichsten Staaten mit zweierlei Maß messen.
Das alles veranlaßt die Orthodoxe Kirche zu einer kritischen und vorsichtigen Beobachtung des Prozesses der rechtlichen und politischen Internationalisierung, wobei sie die Machthaber auf nationaler wie internationaler Ebene zur Wahrnehmung äußerster Verantwortung auffordert. Jegliche Entscheidung, die mit dem Abschluß von folgenschweren internationalen Verträgen sowie der Festlegung der Position der Länder im Rahmen der Tätigkeit internationaler Organisationen verknüpft ist, soll nur in Übereinstimmung mit dem — auf vollständiger und objektiver Information über Wesen und Folgen der geplanten Entscheidungen basierenden — Willen des Volkes getroffen werden. Bei der Einführung einer Politik aufgrund der Annahme bindender internationaler Verträge oder der Tätigkeit internationaler Organisationen wird von den Regierungen erwartet, daß sie die geistige, kulturelle und sonstige Eigenart ihrer Länder und Völker wahren wie auch die berechtigten Interessen ihrer Staaten vertreten. Innerhalb der internationalen Organisationen selbst ist es erforderlich, den gleichberechtigten Zugang der souveränen Staaten zu den Verfahren der Entscheidungsfindung sowie zum ausschlaggebenden Stimmrecht zu gewährleisten, einschließlich des Stimmrechts bei der Festlegung grundlegender internationaler Standards. Konfliktsituationen und Streitigkeiten sollen nur unter Beteiligung und Übereinstimmung all jener Seiten, deren lebenswichtige Interessen betroffen sind, in jedem Einzelfall einer Lösung zugeführt werden. Die Annahme verbindlicher Entscheidungen ohne das Einverständnis des Staates, der von diesen direkt betroffen ist, wird nur im Falle von Aggression sowie Massenmorden innerhalb dieses Landes als möglich erachtet.
Im Bewußtsein der Notwendigkeit, geistig-moralischen Einfluß auf die Handlungen der politischen Führungspersönlichkeiten auszuüben, mit ihnen zusammenzuarbeiten und sich der Nöte des Volkes wie einzelner Personen anzunehmen, tritt die Kirche in einen Dialog mit den internationalen Organisationen und arbeitet mit diesen zusammen. Im Rahmen dieses Prozesses bekundet sie unablässig ihre Überzeugung von der universalen Bedeutung des Glaubens und des Geistig-Spirituellen für die Arbeit, die Entscheidungen und Satzungen der Menschen.
XVI.3. Die Globalisierung hat nicht nur eine politische und rechtliche, sondern auch eine ökonomische sowie eine Kultur- und Informationsdimension. Auf wirtschaftlichem Gebiet führt sie zur Entstehung transnationaler Korporationen, die materielle und finanzielle Ressourcen von beträchtlichem Ausmaß angesammelt haben und eine übergroße Anzahl von Bürgern verschiedener Staaten beschäftigen. Personen, die an der Spitze internationaler ökonomischer und finanzieller Strukturen stehen, haben eine enorme Macht in ihren Hlanden konzentriert, die der Kontrolle der Völker und sogar der Regierungen nicht unterliegt und die auch keine Grenzen respektiert, weder die Staatsgrenzen noch die ethnisch-kulturelle Identität, noch die Notwendigkeit der ökologischen Nachhaltigkeit und der demographischen Balance.
Bisweilen sind sie nicht bereit, die Gebräuche und religiösen Traditionen der in die Verwirklichung ihrer Pläne einbezogenen Völker zu berücksichtigen. Im gleichen Maße besorgniserregend für die Kirche ist die Praxis von Finanzspekulationen, die die Abhängigkeit des Lohnes von erbrachter Arbeit aufhebt. Eine Erscheinungsform solcher Spekulationen unter anderen stellen die „Finanzpyramiden» dar, deren Zusammenbruch Erschütterungen von erdrutschartigem Ausmaß verursachen. Insgesamt führen solche Veränderungen in der Wirtschaft zum Schwinden der Priorität der Arbeit und des Menschen vor dem Kapital und den Produktionsmitteln.
Im Kultur- und Informationsbereich ist die Globalisierung durch die Entwicklung von Technologien bedingt, die den Ortswechsel von Personen und Gegenständen sowie die Verbreitung und Erhaltung von Information erleichtern. Gesellschaften, die früher durch räumliche Entfernungen und Grenzen getrennt, und daher größtenteils homogen waren, kommen heute mühelos miteinander in Berührung und werden multikulturell. Dieser Prozeß umfaßt jedoch auch
Versuche, die Herrschaft der reichen Elite über andere Menschen sowie bestimmter Kulturen und Weltanschauungen über andere durchzusetzen, was insbesondere im religiösen Bereich inakzeptabel ist. Infolgedessen nehmen Tendenzen zu, eine universale Kultur als alternativlos darzustellen, die bar jeder Spiritualität allein auf die Freiheit des abtrünnigen und keinerlei Schranken unterliegenden Menschen als des absoluten Wertes und Maßstabs der Wahrheit setzt. Die solcherart verlaufende Globalisierung wird von zahlreichen Menschen der christlichen Welt mit dem Bau des Turms von Babel verglichen.
Indem die Kirche die Unumgänglichkeit und Natürlichkeit des Globalisierungsprozesses anerkennt, der in vielerlei Hinsicht die Kommunikation der Menschen und die Verbreitung von Information erleichtert sowie eine effektivere produktive und unternehmerische Tätigkeit fördert, verweist sie gleichzeitig auf dessen innere Widersprüchlichkeit und die damit verbundenen Gefahren. Als erstes ist darauf hinzuweisen, daß die Globalisierung — gleichzeitig mit den von ihr herbeigeführten Änderungen der herkömmlichen Organisationsstrukturen der Wirtschaft — Änderungen der herkömmlichen Formen der Organisation der Gesellschaft und der Machtausübung bewirkt Zweitens sind viele der positiven Früchte der Globalisierung ausschließlich jenen Nationen zugänglich, die den kleineren Teil der Menschheit ausmachen, jedoch über ähnliche wirtschaftliche und politische Systeme verfügen. Andere Völker, zu denen fünf Sechstel der Erdbevölkerung gehören, werden an den Rand der Weltzivilisation gedrängt. Sie geraten als Schuldner in Abhängigkeit von den Finanzmagnaten der wenigen wirtschaftlich entwickelten Länder und sind nicht imstande, sich würdige Existenzbedingungen zu schaffen. Unter ihrer Bevölkerung machen sich Unzufriedenheit und Enttäuschung breit.
Die Kirche erhebt die Forderung nach einer allseitigen Kontrolle der transnationalen Korporationen sowie der im Finanzsektor der Wirtschaft ablaufenden Prozesse. Eine solche Kontrolle — mit dem Ziel der Unterwerfung jeglicher Unternehmens- und Finanzaktivitäten unter die Interessen des Menschen und des Volkes — soll unter Einsatz aller der Gesellschaft sowie dem Staat verfügbaren Mechanismen durchgeführt werden.
Der geistigen und kulturellen Expansion, die die Gefahr einer totalen Vereinheitlichung in sich birgt, sollen die gemeinsamen Bemühungen der Kirche, der staatlichen Strukturen, der Bürgergesellschaft und der internationalen Organisationen zugunsten der Durchsetzung eines wahrhaft gleichberechtigten und wechselseitig bereichernden Kultur- und Informationsaustausches, verbunden mit der Verteidigung der geistigen Selbständigkeit der Nation sowie anderer menschlicher Gemeinschaften, entgegengesetzt werden. Eine der Möglichkeiten, das zu erreichen, besteht in der Gewährleistung des Zugangs der Länder und Völker zu den grundlegenden technologischen Ressourcen, die sie in die Lage versetzt, an der globalen Verbreitung und Gewinnung von Information teilzuhaben. Die Kirche erinnert daran, daß viele nationale Kulturen christliche Wurzeln besitzen und die Nachfolger Christi dazu aufgerufen sind, die Verbindungen zwischen dem Glauben und dem Kulturerbe der Völker auszubauen, indem sie sich den Erscheinungsformen der Antikultur sowie der Kommerzialisierung des Raums, der der Information und der Kreativität gehört, entschieden widersetzen.
Die Herausforderung der Globalisierung verlangt von der gegenwärtigen Gesellschaft eine gebührende Antwort, die auf der Sorge um die Erhaltung eines friedlichen und würdigen Lebens für alle Menschen in Übereinstimmung mit dem Streben nach geistiger Vollkommenheit gründet. Des weiteren ist es erforderlich, eine Weltordnung ins Leben zu rufen, die auf den Prinzipien der Gerechtigkeit und der Gleichheit der Menschen vor Gott aufgebaut ist sowie die Unterwerfung ihres Willens unter nationale oder globale Zentren unterbindet, die politischen, wirtschaftlichen und informationeilen Einfluß haben.
XVI.4. Das gegenwärtige internationale Rechtssystem beruht auf dem Vorrang der Interessen des irdischen Lebens des Menschen und der menschlichen Gemeinschaften vor den religiösen Werten (insbesondere in solchen Fällen, in denen erstere mit letzteren in Konflikt geraten). Diese Vorrangstellung ist in der nationalen Gesetzgebung vieler Staaten verankert. Sie ist oft den Prinzipien eingeschrieben, nach denen die verschiedenen Tätigkeiten der Staatsorgane, der Aufbau des staatlichen Bildungssystems usw. geregelt werden.
Eine Anzahl einflußreicher öffentlicher Mechanismen bedient sich allerdings dieses Prinzips in offener Konfrontation mit dem Glauben und der Kirche mit dem Ziel, sie aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen. Diese Erscheinungen erschaffen das allgemeine Bild der Säkularisierung des Staats- und Gesellschaftslebens.
Auch wenn die Kirche der weltanschaulichen Entscheidung nichtreligiöser Menschen sowie ihrem Recht auf Mitgestaltung der gesellschaftlichen Prozesse Achtung zollt, ist sie zugleich nicht in der Lage, eine Weltordnung gutzuheißen, die ihren Ausgang bei der durch die Sünde verdorbenen menschlichen Person nimmt. Namentlich aus diesem Grund richtet die Kirche — unter Beibehaltung der Offenheit zur Zusammenarbeit mit Menschen nichtreligiöser Überzeugung — ihre Bemühungen darauf, die christlichen Werte im Prozeß der Entscheidungsfindung hinsichtlich der wichtigsten öffentlichen Angelegenheiten sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene geltend zu machen. Sie erstrebt die Anerkennung der Legitimität der religiösen Weltanschauung als Basis gesellschaftlich relevanter Handlungen (einschließlich solcher, die durch den Staat vorgenommen werden) sowie die Anerkennung als eines wesentlichen Faktors, der auf die Entwicklung (Verbesserung) des Völkerrechts und der Tätigkeit internationaler Organisationen Einfluß nimmt.
Die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche sollen als Leitfaden den synodalen Einrichtungen, den Diözesen, Klöstern, Kirchengemeinden und weiteren kanonischen kirchlichen Einrichtungen für ihre Beziehungen zur Staatsmacht, zu den verschiedenen weltlichen Vereinigungen und Organisationen wie auch den nichtkirchlichen Massenmedien dienen. Auf der Basis des vorliegenden Dokuments sollen die kirchlichen Autoritäten Positionen zu verschiedenen Sachbereichen formulieren, deren Bedeutung sich auf einzelne Staaten oder kurzfristige Zeitspannen beschränkt oder die einen Gegenstand betreffen, der von besonderen Umständen geprägt ist. Das Dokument wird ein obligater Bestandteil des Unterrichts an den theologischen Schulen des Moskauer Patriarchats. Sofern künftige Veränderungen im staatlichen und gesellschaftlichen Leben sowie neue Probleme, die für die Kirche relevant sind, es erforderlich machen, werden die Grundlagen der Sozialdoktrin der Kirche einem Prozeß der Weiterentwicklung sowie der Vervollkommnung unterworfen. Die Ergebnisse dieses Prozesses sollen durch den Heiligen Synod, die Landes- oder Bischofskonzilien bestätigt werden.
Übersetzung: Christiana Christova
Redaktion: Petra Uertz
Copyright © 2001
Übersetzung ins Deutsche
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.,
Sankt Augustin